Von der Nogat bis zur Elbe – Tausend Kilometer mit dem MountainbikeIm Jahre 2005 trat ich mit der Idee einer Radreise durch Polen an die Genthiner Mountainbiker heran.
Reisen mit Sack und Pack war bis dato für uns nicht vorstellbar. Und so wunderte ich mich auch nicht, dass mein Vorschlag nicht sofort auf fruchtbaren Boden fiel.
Jedenfalls wurde Polen schließlich EU-Mitglied und zahlreiche Fernsehberichte über Ostpreussen, Kaschubien und die Kurische Nehrung weckten schließlich doch bei einigen Kameraden das Interesse.
Wochen und Monate der Vorbereitung vergingen. Wir schafften uns (billige) Gepäckträger und (billige) Packtaschen an, denn der obligatorische Rucksack allein konnte das umfangreiche Reisegepäck unmöglich aufnehmen. Aber da es unsere erste Radreise war, wollte sich auch keiner so ausstatten, wie wir es einige Jahre später dann doch noch taten.
Vier Mitstreiter konnte ich schließlich gewinnen, Ricardo (Aal), Thomas (Heinrich), Ralf (Globus) und einen weiteren Ralf, den Hexer.
Die Abfahrt war auf Sonnabend, den 13. August festgesetzt. Globus hatte die Fahrscheine besorgt. Ich hatte mir Landkarten und einen kleinen Reiseführer zugelegt. Die ungefähre Route stand fest aber Unterkünfte entlang der Strecke waren noch nicht gebucht.
Und da es seit Anfang August sowohl bei uns aber erst recht im gesamten Ostseeraum nur geregnet hatte, kam es, wie es kommen musste: Aal rief mich am Freitag zweimal an und erklärte, dass das Wetter doch sehr schlecht sei usw. und schließlich stellte er die Frage, ob wir tatsächlich starten wollten. Obwohl natürlich auch mir nicht der Sinn nach einem verregneten und kühlen Ostseeurlaub stand, konnte und wollte ich ihm den Gefallen nicht tun. Ich blieb hart und ließ keinen Rückzieher zu. Immerhin sagte der Internet-Wetterbericht für die folgende Woche eine Wetterbesserung voraus.
Vorerst jedoch regnete es in Strömen.
Am Sonnabend um 04:00 Uhr klingelte es erneut: „Es regnet!“ „Ja, und?“ „Wollen wir wirklich losfahren?“ fragte Aal ängstlich. „Zieh deine Regensachen an. Um halb ist Abfahrt!“ Schnell legte ich auf, obwohl seine Besorgnis begründet war. Niemand hätte bei dem Wetter einen Hund vor die Tür gejagt. Und so richtige Reiseradler (die sich von etwas schlechterem Wetter nicht abschrecken lassen) waren wir seinerzeit noch nicht.
Punkt halb fünf, in dem Moment, als wir von Ferchland aus zum Genthiner Bahnhof abfuhren, hörte der Regen auf. Ein gutes Zeichen, wenngleich das Wasser von unten unbarmherzig gegen unsere Regensachen prasselte.
Mit dem Zug fuhren wir über Berlin bis nach Frankfurt / Oder. Hier stiegen wir um, in die polnische Eisenbahn. Die Züge fuhren langsamer als bei uns, sie bremsten rauer und klapperten lauter. „Klack klack... klack klack…” Diese Geräusche hatten wir schon fast vergessen und doch erinnerten sie uns sofort wieder an die Deutsche Reichsbahn. Noch 1989 klang es auf unseren Gleisen genauso.
Ein trüber und regnerischer Tag kroch dahin. Felder, Wälder und Ortschaften zogen an den Fenstern vorbei. Der Zug hielt in jedem Ort. Es fiel auf, dass in Polen sehr viele Menschen mit der Bahn fuhren. Der Hexer, den ich für unsere Sicherheit verantwortlich gemacht hatte, und der seinen Job während der gesamten Tour hervorragend erledigte, schaute immer wieder besorgt nach unseren Rädern, die im Ladeabteil des Waggons standen.
Bei Einbruch der Dämmerung erreichten wir schließlich unseren Ausgangspunkt. Malbork (ehemals Marienburg) in Pommern. An der Nogat gelegen, einem Fluss, der in das Frische Haff mündet. Die Stadt erhielt ihren Namen nach der gleichnamigen Burg, welche wir am folgenden Tag besuchen wollten.
Zunächst aber steuerten wir die Jugendherberge der Stadt an. Tatsächlich wurden wir noch aufgenommen und für umgerechnet knapp 10,- EUR bekamen wir ein Dach über dem Kopf und eine Schlafstätte.
Am nächsten Morgen starteten wir zeitig zur Marienburg, die ihre Tore für Besucher um 09:00 Uhr öffnete.
Bei der Betrachtung der Burg, die 1276 gegründet wurde, wanderten unsere Gedanken zurück in die Zeit des hohen Mittelalters, als der Deutsche Orden von hier aus die so genannten Pruzzen unterwarf. Die Hochmeister des Ordens residierten in der riesigen Burganlage von 1309 bis 1457.
1945 wurde die Burg fast vollständig zerstört und bei dem Ausmaß der Zerstörungen wäre es nicht verwunderlich gewesen, wenn man die Anlage komplett abgetragen hätte. Tatsächlich wurde die Anlage aber wieder aufgebaut, so dass die zahlreichen Besucher, unter ihnen auch viele, überwiegend ältere Deutsche, sich heute noch auf eine Zeitreise in das 14. Jahrhundert begeben können.
„Weiter, weiter.“ Aal trieb uns an, während Heinz durch die rustikale Küche bummelte.
Gegen Mittag starteten wir in Richtung Nordosten. Über Elblag (Elbing) führte uns die Straße an das Frische Haff, nach dem kleinen Fischerort Tolkmicko (Tolkemit). Laut Reiseführer sollte hier eine Fähre das Festland mit der Frischen Nehrung verbinden, der schmalen Landzunge, auf der wir Danzig ansteuern wollten. Allein, wir fanden keine Fähre. Der Hexer bekam gleich Kopfschmerzen und versuchte diese mit Aspirin zu bekämpfen.
Eine freundliche, ausgezeichnet deutsch sprechende Polin erklärte, dass man vor Jahren zwar einen Fähranleger aber keine Fähre bekommen habe. „Ihr müsst weiterfahren, bis nach Frombork (Frauenburg). Von dort fährt eine Fähre auf die Frische Nehrung.“ „Sind sie sicher?“ „Ganz sicher.“ „Danke für die Auskunft.“
Uns blieb keine Wahl.
In zügiger Fahrt ging es durch einen dichten Laubwald und über einige Berge hinweg nach Frombork. „Wenn du weiter so rast, kannst du alleine fahren.“ Aal hatte Mühe, seinen Packesel über die etwa 100 Meter hohen Berge zu wuchten.
Dann soll er doch vorne fahren, dachte ich und ließ mich an das Ende der Gruppe fallen, wo ich alsbald ebenfalls starke Kopfschmerzen bekam.
Am Frauenburger Hafen fiel ich erschöpft vom Rad: Ruhe, nur Ruhe jetzt.
„Was ist nun mit einer Unterkunft? Du musst dich kümmern!“ „Mir ist alles egal. Seht zu, ob ihr was findet, aber lasst mich in Gottes Namen hier liegen.“
Globus fand ein kleines Hotel, nur einen Steinwurf vom Hafen entfernt. Während ich mich in das erste freie Bett warf, streiften meine Kameraden durch die Stadt, in der Nikolaus Kopernikus wirkte und 1543 starb.
Als die Sonne wieder aufging, waren meine Kopfschmerzen verschwunden und so konnten wir gemeinsam das beste Frühstück der gesamten Reise ausgiebig genießen. Übernachtung mit Frühstück für 20,- EUR pro Nase.
Die Karten für die Schnellbootfähre waren bereits gekauft, als wir um 09:00 Uhr zum Hafen fuhren. Eine angenehme Ruhe lag über dem Haff. Die Regenwolken der vergangenen Tage waren abgezogen. Lediglich einige Schönwetterwolken ließen sich am ansonsten blauen Himmel sehen.
Die Schnellbootfähre schoss in den Hafen. Wir ließen zuerst die etwa 30 Passagiere einsteigen. Dann wollten wir, mit einem Empfehlungsschreiben für den Kapitän und regulären Fahrscheinen bewaffnet, unsere Räder auf die Fähre schieben.
Wildes Gestikulieren, Kopfschütteln und die kämpferische Körperhaltung des KptLtn. ließen rasch erkennen, dass wir keine Chancen hatten, auf die Fähre zu gelangen. Die Taue wurden gelöst, die Fähre stach in See und wir standen alleine und verlassen an der Pier.
„Die nächste Fähre kommt bestimmt.“ Meinte ich, nicht mal sauer über die Zwangspause. „Ja, wann denn? Du musst dich kümmern! Du willst doch der Reiseleiter sein.“ „Du musst solche Umstände, die du nicht ändern kannst, hinnehmen und das Beste daraus machen, also mal warten.“ Erläuterte ich Aal meine Sichtweise, während ich es mir gemütlich machte und meine Blicke über das Frische Haff wandern ließ.
Wie aufgescheuchte Rehe rasten Aal und Globus ins Stadtzentrum. Nach einer viertel Stunde störten sie erneut meine Ruhe: „So. jetzt bist du als Reiseleiter abgesetzt.“ So schnell ging das also heutzutage.
„Ist mir recht.“ Globus, der die Fährkarten umgetauscht und dabei noch einen Preisvorteil heraus gehandelt hatte, wurde einstimmig zum neuen Reiseleiter ernannt. Meinen Segen hatte er.
Gegen Mittag legte die normale Fähre an. Mit der durften wir und unsere Räder das Haff überqueren. Wir machten es uns auf dem Oberdeck bequem und genossen die eineinhalb- stündige Überfahrt. Im Nordosten lag Russland, genauer gesagt, dass Königsberger Gebiet und dahinter die Kurische Nehrung. Vielleicht einmal ein Ziel für spätere Tage.
Auf der Frischen Nehrung war Volksfest. Karussells drehten sich und Stände mit allerlei kunterbunten Sachen warben um Käufer. Wir hatten für derlei Zerstreuungen keine Zeit.
Aal bemerkte, dass wir mindestens drei Stunden verloren hatten und deshalb trieb er zur Eile. Ich beugte mich und setzte mich mit etwa 25 km/h an die Spitze der Gruppe. „Schneller!“ raunte mir der Hexer von hinten zu. Das hätte ihm so passen können. Ich war auf Urlaubsfahrt und nicht in einem Radrennen.
Etwa 20 Kilometer später verließen wir die Nehrung wieder und folgten einer gut ausgebauten Straße direkt bis an die Wisla (Weichsel). Mit einer bis auf den letzten Stellplatz gefüllten Fähre überquerten wir den bedeutenden Fluss.
Durch Gdansk (Danzig), der alten Hansestadt, flogen wir mit einem 30er Schnitt. Eigentlich schade, dass die Zeit nur für einen kurzen Zwischenstopp reichte. Tausende und abertausende Menschen pilgerten an diesem Tage durch das Zentrum der altehrwürdigen Hansestadt.
Unser Tagesziel hieß Gdynia (Gdingen). Hier fanden wir nach langem Suchen in der Nähe des Industriehafens eine Jugendherberge. Kein schöner Ort aber ein preiswerter.
Der Arbeitslärm aus dem nahen Hafengebiet riss uns schon vor Sonnenaufgang aus dem Schlaf. Gegen 08:00 Uhr steuerten wir den innerstädtischen Hafen an, von wo aus wir gegen 09:20 Uhr mit einer Fähre auf die Halbinsel Hel übersetzten. Diesmal hatten wir mehr Glück als in Frombork. Eine Schnellfähre nahm uns mit. Die Räder wurden auf dem Oberdeck festgezurrt und mit etwa 35 Knoten bzw. 70 km/h flogen wir über die Putziger Bucht nach Norden.
Weißer Sand und ein vom Nordwind dominierter Kiefernwald prägten den Charakter der Halbinsel. Ähnlichkeiten mit der Frischen Nehrung waren unverkennbar.
Langsam schoben wir uns auf der einzigen Straße westwärts. Wir lagen gut in der Zeit und am Ende der Halbinsel, dort wo die Landzunge nur etwa 200 Meter breit war, genehmigten wir uns eine Pause.
Bei einem herrlichen Blick auf die Ostsee ließen wir uns frische Pfannkuchen schmecken. Der Ort lud zum Verweilen ein aber schon nach einer halben Stunde brachen wir wieder auf. Unser Tagesziel lag noch in weiter Ferne. Die Etappe war von Gegenwind und hügeligem Gelände geprägt. Heinz fuhr selten an der Spitze der Gruppe, aber als er es einmal tat, machte er prompt etwas verkehrt.
„Heinz, schau mal,“ belehrte Aal, wobei er sich vor Heinz setzte, „von mir kannst du noch eine Menge lernen: „wenn der Wind von rechts vorne kommt, musst du ganz weit rechts fahren, damit ich auch noch etwas von deinem Windschatten abbekommen.“ „Ich fahre schon zehn Jahre Rad. Du kannst mir nichts mehr beibringen.“ Sagte Heinz und trat noch kräftiger als zuvor ins Pedal. Der Tacho kletterte auf über 30 km/h.
Etwa 10 km vor Leba machten wir eine kleine Pause, in der man sich erleichtern konnte. Aal verpasste leider den Anschluss und nachdem wir in Leba angekommen waren, erkundigte er sich bei Heinz, der geführt hatte, wem er es denn zu verdanken habe, dass er die letzten Kilometer alleine fahren musste. „Du hättest eben schneller pinkeln müssen. Aber vielleicht kann ich dir das bei Gelegenheit noch mal beibringen.“ Das saß.
In Leba standen wir vor einem Problem. Laut Karte gab es keinen direkten Weg nach Westen. Wir hätten also auf der Zufahrtsstraße, auf der wir am Vorabend gekommen waren, wieder zurückfahren müssen. 10 Kilometer umsonst. Das gefiel mir nicht.
Westlich von Leba lag der Slowinski Nationalpark. Dieses insgesamt 20 km lange Schutzgebiet konnte man zwar durchwandern aber konnte man es auch mit dem Fahrrad durchqueren?
„Wir müssen unbedingt dahin. Und wenn es gar nicht anders geht, drehen wir eben um aber ich will die Dünen wenigstens einmal im Leben sehen.“ Entschied ich. „Was denn für Dünen?“
Im Reiseführer war von über 40 Meter hohen Dünen die Rede, welche das Landschaftsbild prägten. „Na gut, bis zu den Dünen können wir fahren. Anschauen, fotografieren und dann nichts wie zurück.“, meinte der Hexer.
Ich war zufrieden und insgeheim gab ich die Hoffnung noch nicht auf, dass es einen fahrbaren Weg durch das Dünengebiet geben würde.
Die Straße schlängelte sich zunächst durch einen dichten Kiefern- und Fichtenwald hindurch. Rechter Hand passierten wir ein Raketentestgelände, welches in den 30er Jahren von den Deutschen errichtet worden war. Hier und da versteckte sich ein Bunker im Unterholz.
Plötzlich lichtete sich der Wald und vor uns lag weißer Sand. Ein riesiger Haufen weißen Sandes, der sich, von Nordwesten vorschiebend, an dieser Stelle in den Wald hineinfraß und die Bäume unter sich begrub. Wir standen am Anfang der Düne oder am Ende, je nach Sichtweise.
„Vorwärts, ich will da hoch!“
Schritt für Schritt erklommen wir die weißen Berge. Mehrere Wandergruppen taten es uns gleich, nur das wir weit und breit die einzigen Menschen waren, die ihre Räder auf die Düne schleppten.
Oben angekommen erkannten wir erst das gewaltige Ausmaß der Dünenlandschaft. Der gekennzeichnete Wanderweg führte direkt zum Meer. Der Wanderweg war hier der lose Sand der Düne. Und so kämpften wir uns erst einmal bis an das Meer. Phantastisch, der Anblick der polnischen Ostsee lud zum Verweilen ein. Danach standen wir vor einer folgenschweren Entscheidung: „Umdrehen oder weiterfahren?“ … „Fahren wir!“
Direkt an der Küste, dort, wo die Wellen auf den Strand klatschten, war es gerade so möglich zu fahren. Aal, der beste Techniker von uns, radelte leichtfüßig voraus. Was ihm so leichtfüßig gelang, konnte für uns nicht unmöglich sein. Also folgten wir ihm. Der Hexer versuchte schnaufenderweise das Hinterrad von Aal zu halten, was ihm tatsächlich für einige hundert Meter glückte. Aber die Strecke, die wir im weichen Ostseesand zurücklegen mussten, betrug 12 km. Und so ließen Heinz und ich es etwas gemächlicher angehen. Von hinterer Position erkannten wir, dass der Hexer, der sich von einem falschen Ehrgeiz hatte antreiben lassen, Aal ziehen lassen musste. Wie eine Fata Morgana entschwand er unseren Blicken. Zwei Kilometer später überholte auch Globus den Hexer.
„Meine Bremse schleift.“ Keuchte der, als ich mich langsam auf seine Höhe geschoben hatte. Ich nickte. Aber schleiften die Bremsen nicht auch an unseren Rädern? Die Ostsee griff nach mir. Welle um Welle schlug gegen das Rad. Das Salzwasser umspülte meine Füße. Sand und Wasser setzten sich in die Kette und die Ritzel. Es knirschte und knackte. Aber es gab kein Zurück. Wir hatten uns für den Weg entschieden und jeder kämpfte sich auf seine Weise durch die Fluten.
12 Kilometer weiter und eine Stunde später erreichten wir den ersten Ausgang aus dem Nationalpark.
Wir verließen den Strand. Polnische Ferienkinder schauten uns an, als würden wir von einem anderen Stern kommen. Radfahrer wurden hier wohl eher selten gesichtet.
Wir glaubten, dass die größten Strapazen nun hinter uns lagen. Ein Irrtum. Auf dem einzigen Weg zurück in die Zivilisation mussten wir ein ganzes Dünenmeer durchqueren. Eine weitere Stunde brachten wir damit zu, unsere Packesel bergauf und bergab durch schneeweißen Sand zu schieben. Wüstenlandschaft, durchsetzt von niedrigem Kieferngestrüpp.
„Ostsee ist für mich gestorben!“ erklärte der Hexer.
Tatsächlich aber befanden wir uns gerade im schönsten Abschnitt der gesamten Reise. Die einzigartige Dünenlandschaft entschädigte uns für die Mühsal.
Irgendwann einmal kamen wir zu einem dichten Laubwald und einige Kilometer weiter fand sich ein Wirtshaus, wo wir uns stärkten und unsere Räder vom gröbsten Schmutz befreiten.
Am Nachmittag verirrten wir uns im polnischen Wald. Eine wunderschöne, direkt am Meer entlangführende Straße, entpuppte sich als Sackgasse. Das heißt, sie führte zu einem Militärgelände, das seine Pforten für uns natürlich nicht öffnete. Etwa eine Stunde kurbelten wir durch den Kiefernwald, bis wir wieder auf die Hauptstraße kamen. Nach 115 km schlugen wir unser Nachtquartier in Darlowo (Rügenwalde) auf. Von der Stadt und der berühmten Wurst bekamen wir wenig zu sehen, stattdessen ließen wir uns Pizzen mit einem Durchmesser von 38 cm für umgerechnet 5,- EUR schmecken.
Gut gestärkt folgte am Donnerstag die mit 105 km zweitkürzeste Etappe über Kolbrzeg (Kolberg) nach Deep.
Warum ein Teil der Reisegruppe unbedingt in Kolberg in die Ostsee springen musste erschloss sich mir nicht so recht. Menschenmassen drängelten sich am Strand, so dass ich wenig Lust verspürte, mich dort auch nur eine Minute niederzulassen.
Und so wartete ich zusammen mit dem Hexer geschlagene zwei Stunden auf den Rest der Truppe. Die Dauer dieser Pause sorgte für schlechte Stimmung, die erst am nächsten Tag abgebaut wurde.
Im kaum auszusprechenden Swinoujscie (Swinemünde) ließ Heinrich zweimal hintereinander sein Softeis aus der Waffel rutschen und legte sich dabei gleich noch mit einem deutschen Rentner an, als er diesen, wohl ohne Absicht, mit seinem Rad anstieß. Diese Szene sorgte für Erheiterung, nur nicht beim Rentner.
Wieder auf deutschem Gebiet, telefonierte der Hexer mit einem entfernten Verwandten, der uns für die folgende Nacht eine Unterkunft zur Verfügung stellen wollte. So zumindest war der Plan des Hexers. Ein Telefonat sollte es richten. Es lief in etwa so:
„Wir kommen heute Abend. Es geht doch alles klar?“ „Wer bist du, was zahlst du und überhaupt, was willst du von mir?“ „Ich bin es, Ralf, dein lieber Cousin.“ „Ach was, kenne ich nicht. Und Tschüß!“ Pause!
„Was hat er gesagt?“ „Er ist zur See gefahren.“ „Er ist was...?“
Ein guter Kaufmann verspricht nur dass, was er halten kann und er hält, was er verspricht. Der Hexer war entweder ein verdammt schlechter Kaufmann oder gar keiner. Kurzum, die immer wieder versprochene Übernachtung im Familienbungalow fiel buchstäblich in das Wasser des Stettiner Haffs.
Gott sei Dank fanden wir im Usedomer Hinterland noch eine Ferienwohnung, in der wir freundlich aufgenommen wurden.
Am Sonnabend und am Sonntag fuhren wir über Anklam und Ueckermünde zunächst nach Penkun, einem kleinen Nest in der Uckermark, wo wir eine Nacht unter freiem Himmel verbrachten. Dann weiter über Schwedt, auf dem Oder-Radweg bis zum Schiffshebewerk nach Niederfinow und über den Oder-Havel-Radweg bis vor die Tore von Berlin, nämlich in den Barnim, nach Ruhlsdorf.
In diesen zwei Tagen stellten wir wieder einmal fest, wie schön Deutschland ist. Besonders der durchgängig befestigte und gut ausgezeichnete Radweg entlang des alten Finow-Kanals war aus unserer Radfahrersicht aller erste Sahne.
Am Montag, 22. August fuhren wir unsere letzte Etappe. Mit großem Gang zog Heinrich uns bis auf den Alexanderplatz. Direkt im Schatten des Fernsehturmes stärkten wir uns. Später ging es durch das Brandenburger Tor westwärts. Den letzten kulturellen Höhepunkt setzte ein Abstecher nach Sanssouci. Den Park hatten wir letztmalig während unserer Schulzeit besucht und dementsprechend groß war der Eindruck, den die weitläufige Anlage bei uns hinterließ.
Auf der B1 strampelten wir am Nachmittag bei einem angenehmen Nord-Ost-Wind bis nach Genthin, wo wir uns ordnungsgemäß bei unserem Vereinschef zurückmeldeten.
Eine zehntägige Radtour mit insgesamt 1.100 Kilometern lag nun hinter uns. Dies war also in der Tat unsere allererste Radreise. Und wir haben gemerkt, dass Polen heute weniger ein Abenteuer als vielmehr eine Reise wert ist. Freundliche Menschen, malerische Strände und Landschaften und nicht zuletzt günstige Preise sollten in den nächsten Jahren vermehrt auch junge Deutsche ins Land locken.
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