September 2023, gut 1.600 Kilometer, drei Wochen
14.300 Höhenmeter laut komoot, 17.777 Höhenmeter laut caminaro
Der Track auf komootDer Track auf caminaroDas sogenannte leere Spanien umfasst etwa 270.000 Quadratkilometer, also ungefähr drei Viertel der Fläche Deutschlands, beziehungsweise gut die Hälfte der Fläche Spaniens. Auf dieser Fläche leben insgesamt nur etwa 4,5 Millionen Menschen. Etliche Provinzen haben eine Bevölkerungsdichte ähnlich wie Lappland.
Der Großteil der Bevölkerung lebt an den Küsten oder im Großraum Madrid, zwischendrin herrscht weite Leere.
Fenster eines verlassenen HausesDicht besiedelt war das iberische Inland auf Grund seiner Kargheit noch nie. Im 19. Jahrhundert gab es mehrere Auswanderungswellen Richtung Lateinamerika wegen Missernten und Hungersnöten, der spanische Bürgerkrieg zwang ebenfalls viele vor allem republikanisch gesinnte Familien ihre Dörfer zu verlassen. In den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts veranlasste Franco die Schließung der Schulen und Gesundheitszentren in den Dörfern, dadurch waren die Kleinbauern gezwungen in die Städte ziehen und zu Industrieproletariat zu mutieren, die Fabriken brauchten Arbeitskräfte.
„Auf Grund der Lebensumstände mussten wir auswandern, verbunden mit der Illusion und der Hoffnung eines Tages zurückzukehren“
In den letzten Jahren gab es aber auch zaghafte Wiederbesiedelungen mit Aussteiger- und Selbstversorgerperspektiven, seit Corona kommen auch Homeoffice-Konzepte in abgelegenen Dörfern hinzu, sofern die Internetverbindung stabil ist. So richtig einfach ist das aber alles nicht.
Vor einigen Jahren erschien ein Buch welches in Spanien selbst für große Diskussion sorgte, „La España vacia. Viaje por un pais que nunca fue“ von Sergio del Molino. Dieses Buch setzt sich recht detailliert und kritisch mit dem Leben und den Zuständen im verlassen spanischen Inland auseinander und hat es immerhin geschafft das Thema in den dortigen politischen Diskurs einzubringen.
Das Buch ist inzwischen auch in deutscher Übersetzung erschienen, „Leeres Spanien. Reise in ein Land, das es nie gab“, Verlag Wagenbach.
„Kläranlage jetzt!“Durchs leere Spanien bin ich immer mal wieder gekreuzt, mit dem Auto, dem Zug oder mit dem Rad und war immer wieder fasziniert von der Abgeschiedenheit und der Weite dieser Landschaften.
Diesmal wollte ich einmal längs durchs Land radeln, beginnend in Irun an der Atlantikküste und an der Grenze zu Frankreich und endend in der Nähe von Almeria am Mittelmeer.
Die Wochen vor der Tour durfte ich mich auf Grund einer Operation am Bein nur sehr wenig bewegen und dementsprechend unfit trat ich diese Reise an. Deshalb dachte ich in Bordeaux zu starten. Ein paar Kilometer Vorlauf in flacherem Gelände wäre nicht die schlechteste Idee bevor ich mich ins bergige Spanien aufmache.
Über die sogenannte Vélodyssée an der französischen Atlantikküste entlang hatte ich schon mehrfach gelesen, würde mich als Hauptziel zwar nicht großartig interessieren, aber so zum Aufwärmen fand ich die Strecke ganz ansprechend.
Da kam es mir ganz gelegen, dass ich hier im Forum über einen Zug gelesen hatte welcher jeden Samstag direkt von Freiburg wo ich wohne nach Bordeaux fährt, ein TGV mit Fahrradmitnahme. Wie sich aber herausstellt, fährt zwar der Zug an sich direkt, das Fahrradabteil wird jedoch erst in Straßburg angekoppelt, was dazu führt, dass ich mit Regionalzügen dem direkten Zug vorausfahren muss, auf Grund von Überfüllung in Kehl mit dem Rad des Zuges verwiesen werde, und gerade noch rechtzeitig in Straßburg ankomme. Der Rest der Fahrt verläuft dann problemlos.
Danke an dieser Stelle an Kathleen_O, die mir den Fingerzeig bei der Recherche gegeben hat.
Der Sommer war in ganz Europa elendsheiß und ich bin etwas in Sorge, ob es in Inlandsspanien im September eventuell noch zu warm sein könnte. Aber just zu meinem Reisestart ist für Südwesteuropa ein Temperatursturz von an die fünfzehn Grad angesagt, dazu unbeständiges Wetter. Letztendlich bin ich dann noch nie soviel bei Regen und Gewitter in Spanien unterwegs gewesen wie auf dieser Tour. Eigentlich wollte ich viel mehr auf Schotterpisten fahren, aber ich muss unterwegs öfter meine Pläne ändern.
In Bordeaux übernachte ich in einem Hotel am Bahnhof und bin am nächsten Morgen gleich so hibbelig dass ich nicht die Muße aufbringe mir noch die Altstadt anzukucken was mir später ein wenig leid tut. Stattdessen fahre ich mit dem Regionalzug noch aus dem städtischen Agglomerat raus und startete meine Reise.
Und zwar gleich mit einem Umweg, Freunde von mir machen zufälligerweise Urlaub ganz in der Nähe auf einem Campingplatz direkt am Meer so das ich es mir nicht nehmen lasse, dort noch auf einen rotweinschwangeren Abend vorbeizukucken.
Von dort fahre ich hinter den Dünen über eigenständige straßenferne Radwege nett durch die Kiefernwälder bis ans Cap Ferret, setze von hier mit einer kleinen Fähre nach Arcachon über, das Rad muss aufs Dach. Die berühmte Düne von Pilat lasse ich rechts liegen, dort ist es mir zu wuselig. Ab dieser größten Wanderdüne Europas verläuft die Fahrradstrecke über die nächsten 75 Kilometer größtenteils parallel zu vielbefahrenen Straßen, das geht zwar gut zu fahren, ist aber nicht gerade idyllisch. Die erste Stunde nach der Düne ist der gesamte Wald niedergebrannt, das hat schon was dystopisches, eine Blechlawine von Verbrennerfahrzeugen in beide Richtungen mit aufgeschnallten Rädern und Surfboards in dieser verkohlten Landschaft.
Ab Höhe Mimizan verläuft die Vélodyssée dann wieder auf eigenständiger Strecke durch die Kiefernwälder. Man fährt zwar immer hinter den Dünen und das Meer ist quasi nie zu sehen, aber alle paar Kilometer quert man eine Stichstraße die zum Meer führt und an deren Enden liegt jeweils ein kleiner Touriort mit Cafés und Restaurants und Stränden.
Diesen Abschnitt bis Boucau finde ich eigentlich ziemlich nett, etwas monoton zwar, aber ohne Autoverkehr und ganz gut zum eingrooven.
Ich sehe etliche Reiseradler und Radlerinnen, mit einigen quatsche ich kurz, fast alle fahren die Vélodyssée zur Gänze aus, immerhin etwa 1300 Kilometer.
Ab Boucau droht akut schlechtes Wetter mit viel Regen und schweren Sturmböen und ich habe eigentlich den Plan dieses ganze städtische Agglomerat von Bayonne über Biarritz bis nach Saint-Jean-de-Luz mit dem Zug zu durchqueren, je nach Wetter sogar bis Hendaye.
Wie ich aber in Boucau am Bahnhof stehe, der Zug wäre in wenigen Minuten gekommen, flüstert mir so ein süßes, hinterhältiges Stimmchen irgendwas ins innere Ohr, von wegen wie unendlich wertvoller und moralisch hochwertiger es doch wäre die gesamte Strecke zu radeln und jetzt mit dem Zug zu kneifen nur was für verwöhnte Schönwetter-Weicheier wäre. Ich bin so töricht auf dieses Stimmchen zu hören und quäle mich zur Strafe die nächsten Stunden bei starkem böigen Seitenwind und richtig schwerem Regen über vielbefahrene Innenstadtstraßen, verfahre mich in irgendwelchen Villengegenden und fluche auf Küstenwegen über plötzlich auftauchende 20%-Steigungen. Von Biarritz kriege ich gar nichts mit vor lauter Konzentration darauf nicht weggeweht zu werden.
Ab Saint-Jean-de-Luz wird das Wetter wenigstens wieder ruhiger und ich will eigentlich diese bekannte Corniche-Basque-Küstenstraße entlangfahren, lande aber statt dessen auf einer ausgeschilderten Radstrecke, die auf dem oberhalb liegenden Hügelkamm entlangläuft. Darüber bin ich trotz des heftigen Aufstieges lrtztlich ganz froh, weil ich später von oben sehen kann, dass die enge Küstenstraße zu dieser Uhrzeit sehr stark befahren ist, da hätte ich keine Freude dran gehabt.
Im Zentrum von Irun auf spanischer Seite suche ich mir eine Bar mit Terrasse, bestelle mir Bier und Pinchos (nordspanisch für Tapas) und werde von einer Gruppe rüstiger Damen mit pfadfinderähnlichen Halstüchern auf benglisch (bayrisches Englisch) angesprochen, wie lange ich denn mit dem Rad für „den camino“ geplant hätte. Ich stehe erst auf der Leitung bis ich checke, dass ich hier neben einer Herberge auf dem Pilgerweg nach Santiago pausiere. Als ich den Damen erkläre, ich würde ganz säkular nach Andalusien radeln wollen und hätte mit „dem camino“ nichts am Hut, verlieren sie sofort jegliches Interesse an mir, was mir nicht ganz unrecht ist.
Da nachts viel Regen angesagt ist, zelte ich in Hondarriba auf dem Campingplatz, hänge noch unvernünftig lange in der Bar des Platzes rum und freue mich über die Pincho-Kultur und die moderaten Preise.
Am nächsten Tag will ich aus nostalgischen Gründen über den Jekzibel nach San Sebastian radeln. Vor vielen Jahren kam ich hier mal als junger Autostopper längs und ein patriotischer Baske lies es sich nicht nehmen, extra für mich den Umweg über diesen Bergrücken hoch über dem Meer zu fahren um mir die Schönheit seiner Heimat zu zeigen.
Ich bin etwas skeptisch vor dem Aufstieg, weil der Abend reichlich lang war und ich mich nach den ersten drei Tagen noch nicht so wirklich fit fühle. Aber alles gut, ich kann die Strecke in einem Rutsch durchfahren, die Aussicht ist wirklich wunderschön.
Auf der anderen Seite des Berges noch oberhalb der Abfahrt kehre ich in einer netten Cantina ein, esse zu Mittag und studiere den Wetterbericht. Ab dem nächsten Nachmittag soll es für mehrere Tage stark regnen und windig werden.
Ich kalkuliere hin und her, und beschließe schweren Herzens aber sehenden Auges San Sebastian auszulassen und mich direkt Richtung Pamplona aufzumachen. Der nächste Abschnitt soll schon recht einsam werden und ein mehrtägiges Unwetter sitze ich lieber in einer Stadt aus als in den Bergen. Gleich am Anfang eine mehrtägige Pause in San Sebastian zu machen, dazu bin ich zu unruhig, aber bis Pamplona könnte ich es gerade so schaffen.
Ich schlängele mich also an San Sebastian vorbei bis Andoain wo die Via Verde del Plazaola beginnt. Diese ehemalige Bahnstrecke führt sehr schön Richtung Navarra hoch durch ein abgelegenes Tal, in dem auf die nächsten vierzig Kilometer nur ein einziges Dorf liegt und eine einzige Straße gekreuzt wird. Vor dem ersten Tunnel sind noch ein paar Spaziergänger unterwegs, der Tunnel ist verriegelt und die Umfahrung ist ein wenig kompliziert, danach treffe ich insgesamt noch drei Forstfahrzeuge bis zum nächsten Mittag.
Die Schotterpiste führt durch ein liebliches waldiges Tal kontinuierlich leicht ansteigend.
Es ist sehr feucht und grün, die Via Verde wird ihrem Namen gerecht.
Die Route führt auch durch mehrere Tunnel, der oberste und längste ist beleuchtet, alle anderen nicht. In manchen gibt es wassergefüllte Schlaglöcher, im Großen und Ganzen aber ist die Trasse gut befahrbar.
Ich finde eine schöne Biwakstelle am Bach.
Nach dem höchsten Punkt im Tunnel geht es durch das nächste Tal wieder runter nach Navarra, irgendwann kommt eine Autobahn in Hörweite dazu, später muss man zwingend auf eine stark befahrenen Straße, aber es gibt wenigstens einen breiten Seitenstreifen.
Kurz vor Pamplona biegt der Radweg nochmal von der Straße weg und verläuft über Felder, allerdings sehr ruppig. Hier halte ich noch kurz an einem potentiellen Biwakplatz, einer Kapelle mit Vordach und daneben ein kleiner Picknickplatz. Ich komme ins Überlegen, Regen ist angesagt für die nächsten drei Tage, aber alle Hotels in Pamplona sind recht teuer für meine Verhältnisse. Vielleicht doch hierbleiben und so schlimm wird’s nicht werden? Aber der Wetterbericht prognostiziert ergiebigen Regen und Temperatursturz, am Himmel sehe ich Cirrenwolken aufziehen, vor denen habe ich Respekt.
Ich buche mir mit per Internet ein teures Hotel für zwei Nächte in Pamplona. Eine gute Stunde später schaffe ich es gerade noch so vor die Hoteltür als ein Wolkenbruch mit Gewitter losbricht, zwischendurch hagelt es auch. Es regnet die ganze Nacht richtig stark durch, am nächsten Vormittag in einer Bar sehe ich erste Bilder im spanischen Fernsehen von überschwemmten Dörfern, weggespülten Häusern und treibenden Autos. Am Mittag laufe ich im immer noch strömenden Regen ins Stadtzentrum, sehe die berühmte Gasse durch die sich einmal im Jahr Mensch und Stier ein krudes Wettrennen liefern, aber außer ein paar Santiago-Pilgern und mir ist niemand unterwegs und die Stimmung ist auch nass und trist.
In jedem Souvenirladen steht auch ein ausgestopfter Stier.
Als es am zweiten Abend seit inzwischen 24 Stunden immer noch ergiebig regnet, ändere ich meinen Routenplan für die kommenden Tage. Eigentlich wollte ich ab Pamplona in die Banderas Reales fahren, ein einsames Wüstengebiet das unbewohnt und nur von Erdpisten durchzogen ist. Ich kenne aber auch die Berichte u.a. von Veloträumer und love2bike hier im Forum, wie sie in diesem Gebiet im Matsch versunken sind. Der iberische Lehmschlamm ist nicht zu unterschätzen und nach 40 Stunden starkem Dauerregen will ich Erdstraßen vorerst tunlichst vermeiden. Weil die weitere Wetterprognose auch sehr regnerisch aussieht, verzichte ich auch auf den Aufstieg in die Berge von Soria über Pisten, so wie ich ihn eigentlich analog zur Tour von love2bike geplant hatte. Im Fernsehen häufen sich die Katastrophenbilder und ein Teil der betroffenen Gebiete liegt auf meiner Route für die nächsten Tage. Ich plane also um, von Piste auf größtenteils Asphalt.
Ich verlasse Pamplona auf dem Pilgerweg nach Santiago und bin beeindruckt wie viele Menschen auf diesem Weg unterwegs sind. Auf wenigen Kilometern sehe ich viele Dutzend wenn nicht sogar über hundert pilgernde Menschen. Es fängt wieder an stark zu regnen, ich philosophiere gerade über diese Massenwanderung, als plötzlich irgendwas mit meiner Schaltung nicht mehr stimmt, erst mal ignorieren bringt leider nichts und ich muss vielmehr feststellen, dass beim Schalthebel für hinten die Plasteführung von der Zugzufuhr abgebrochen ist. Kaum hat das Ding dreißig Jahre, schon geht’s kaputt, Skandal! Ich ziehe mich strategisch in eine Dorfbar zurück und klage dem Wirt mein Leid. Der kann mir zwar auch nicht helfen, hört mir als guter Wirt aber zu und spendet Trost. Danach repariere ich das Malheur mit einem Dutzend Kabelbindern, zum Glück habe ich mir in Pamplona nach Bauchgefühl eine Packung auf Vorrat gekauft.
Das Flickwerk wird die nächsten 2000 Kilometer halten.
In Puente de la Reina biege ich nach Süden ab, komme an den verschlossenen Ausgrabungen einer römischen Stadt vorbei und schlängele mich erst auf nassen Schotterpisten dann auf Asphalt bis nach Calahorra durch, von dort geht erst ein paar Kilometer recht langweilig auf einem Bahntrassenradweg parallel zur einer vielbefahrenen Straße bis kurz vor Aurol. Ab dort wird der Radweg wesentlich ansehnlicher und führt durch ein recht hübsches Tal, die Trasse verläuft straßenfern bisweilen durch Auwälder am Flüsschen entlang, dann wieder durch kleine Felder und Gärten.
„Ein Baum für Europa, engagiert im Kampf gegen den Klimawandel!“ In Arnedillo endet der Fahrradweg, es gibt eine öffentlich zugängliche heiße Quelle mit einem großzügigen und sehr sauberen Pool.
Ab hier geht es in die Berge, die Einsamkeit beginnt, später am Tag soll es schon wieder gewittern. Ich komme noch bis Yenguas, einst ein berühmtes Grenzdorf zwischen Soria und La Rioja, sogar eine Episode von Don Quixote handelt hier. Das Dorf hatte mal über tausend Einwohner, jetzt sind es nur noch etwa achtzig. Als ich nachmittags ins Dorf einfahre, ist es dunkel wie in der Nacht, so dick hängen die schwarzen Wolken in den umliegenden Bergen, ich flüchte gerade noch in eine Bar, als die Schleusen sich öffnen. Es regnet stundenlang ohne Unterlass, die Dorfstraßen sind schon bald Sturzbäche, an biwakieren ist nicht zu denken. Eine Pension gibt es noch im Dorf, dort quartiere ich mich ein, nicht ganz billig, aber manchmal muss es halt sein.
Abends komme ich noch ins Gespräch mit dem 24-jährigen Bürgermeister, der mir von einem Bergdorf weiter oben erzählt, in dem eine 95-jährige Frau ganz alleine wohnt seit ihr Mann vor zwanzig Jahren gestorben ist. Er fährt einmal die Woche hoch und kuckt nach ihr, sie hat noch Schafe, Ziegen, einen Garten, einen Kartoffelacker und seit kurzem auch einen Esel zum Wasser holen weil der Dorfbrunnen dort oben inzwischen trocken ist.
Graffiti in einem verlassenen DorfAm nächsten Morgen beim Kaffee klagt die Wirtin über die Einsamkeit, das Wetter ist wieder schön und ich klettere weiter die sorianischen Berge hoch, zwischendrin kommt eine kleine Ausgrabung von Dinosaurier-Spuren direkt an der Straße.
Nach dem höchsten Punkt habe ich eine ewig lange Abfahrt bis Soria, Verkehrsaufkommen so ca. drei Fahrzeuge pro Stunde.
Kurz vor Soria quäle ich mich noch über einen ausgeschilderten Radweg, der in schlechtem Zustand ist, selbst die zwei Mountainbiker schimpfen, die ich auf dem Weg treffe.
Die Provinzhauptstadt Soria selbst ist so klein, dass ich schon wieder aus der Stadt draußen bin, als ich noch gar nicht das Gefühl habe richtig reingefahren zu sein. Ich stärke mich in einem schönen Café direkt am Fluss und fahre gleich weiter.
Hinter Soria geht es längere Zeit schnurgerade und eben auf einer weiteren Via Verde durch endlose Sonnenblumenfelder.
Es wird schon Abend und ich finde nirgends eine gute Biwakstelle, die wenigen potentiell geeigneten Plätze sind alle verschlammt. Schon bei Dunkelheit fahre ich in ein Dorf ein, dass auch mal über tausend Einwohner hatte, inzwischen aber Großteils verlassen und im Verfall begriffen zu sein scheint.
Am Dorfplatz finde ich eine offene Bar mit sehr seltsamer Stimmung. Am Nebentisch regt sich ein Zuschauer so über eine stattfindende Schachpartie auf, dass er im Zorn den Tisch mit samt dem Schachbrett umwirft, an einem anderen Nebentisch erklärt eine ziemlich dicke junge Frau ihr Erziehungskonzept. Sie hätte vier Töchter zuhause und wenn sich eine davon schlecht benimmt, bekommen alle vier für den Rest des Tages nichts zu essen, damit sie sich gegenseitig beibringen wie man sich gut benimmt.
Ich find es etwas gruselig hier und bin heilfroh als ich letztendlich am Dorfrand noch einen ruhigen und versteckten Picknickplatz zum Biwakieren finde.
Am nächsten Tag geht es durchs Grenzland der ehemaligen Königreiche Kastilien und Aragón zuerst über wellige Hügel und dann durch eine kurze Schlucht runter ins breite Tal des Rio Jalón. Eigentlich wollte ich noch geringfügig weiter östlich die Sierra de Amantes mit in meine Tour einbauen, von dort habe ich sehr schicke Fotos gesehen, unter anderem hier im Forum von love2bike. Aber auch dieses Gebiet ist nur durch Erdstraßen erschlossen und genau dort hängt laut Regenradar ein Gewitter, auf diese Konstellation habe ich wahrlich keine Lust. Stattdessen fahre ich auf Landsträßchen und treffe vielleicht fünf Autos auf 50 Kilometer. Ich komme an einem halben Dutzend weitgehend verlassener kleiner Dörfer vorbei. Von etwa jeweils fünfzig Häusern, erscheinen eine Handvoll noch bewohnt zu sein.
Ich steuere den Thermalsee in Alhama de Aragón an, das Dorf ist ein alter Kurbadeort, die Quelle kannten schon die Römer, allerdings sind die meisten Badeanstalten und Hotels schon seit vielen Jahren aufgegeben und im Verfall begriffen. Nur ein Hotel ist noch intakt und tut so, als ob es nach wie vor ein mondänes Grand Hotel wäre.
In Mitten der großzügigen Gartenanlagen findet sich ein Thermalsee mit 28 Grad heißem Wasser und Liegestühlen. Ich zahle den Eintritt an der Hotelrezeption und frage den Wächter der am See aufpasst ob ich mein Rad mit ins Badegelände nehmen kann, kein Problem sagt er. Ich schwimme und faulenze und eine Stunde später steht der selbe Wärter ganz aufgebracht vor mir, ich müsse mein Rad sofort entfernen, der Herr Direktor persönlich hätte sich beschwert. Abstellen solle ich es auf dem Hotelparkplatz relativ weit weg, das finde ich wiederum nicht annehmbar und fahre weiter.
Der ThermalseeÜber den nächsten Bergrücken komme ich ins wunderschöne Tal des Rio Mesa dem ich etwa 35 Kilometer folgen werde. Das Tal ist auf beiden Seiten von etwa hundert Meter hohen Felsen gesäumt, in denen eine große Zahl von Geiern lebt, im Tal selbst finden sich noch intakte Dörfer und viele kleine Obst- und Gemüsegärten. Hinter dem Dorf Jaraba, auch ein Kurort, findet sich in einer Seitenschlucht ein eindrucksvolles Felsenkloster.
In dieser Seitenschlucht will ich eigentlich wild zelten, finde auch einen geeigneten Platz, aber warum auch immer fühle ich mich dort nicht wohl. Das passiert mir selten aber manchmal beim Wildcampen dass ich einen geeigneten Platz finde, mich dort aber ein unwohles Gefühl beschleicht. In der Regel suche ich mir dann einen anderen Platz, weil gut schlafen werde ich dort eh nicht können, egal ob das Gefühl trügerisch oder vorahnend gewesen wäre.
Ich fahre jedenfalls zurück ins Dorf und finde einen aufgelassenen Fußballplatz mit Sichtschutz. Vor dem Zeltaufbauen fahre ich aber noch zur nahegelegenen Bar und lerne dort ein Pärchen kennen mit denen ich gemeinsame Bekannte habe wie sich im Gespräch herausstellt, was für ein Zufall.
Am nächsten Tag fahre ich weiter durch das Tal, im vorletzten Dorf gibt es noch einen Mini-Lebensmittelladen mit sehr beschränktem Angebot, im letzten Dorf kommt noch eine ganz kleine Bar, ich reklamiere Hunger, der Barkeeper meint zwar, er hätte nur Getränke und zaubert mir dann doch eine sehr leckere Tortilla. Verkehrsaufkommen gleich Null.
An einem Rastplatz am Fluss sehe ich ein vollbepacktes Reiserad stehen, das erste seit Tagen, ich halte an und sehe keine Menschenseele, ich warte gute fünf Minuten, aber niemand taucht auf.
Nach dem letzten Dorf geht es steil den Hang hinauf auf eine Hochebene, es ist mittags, kein Schatten und ziemlich heiß. Ein Auto kommt mir entgegen, der Fahrer hält, fragt mich zuerst ob ich verrückt sei, dann ob es mir gut geht, ob ich Wasser bräuchte, und empfiehlt mir zu guter Letzt die Bar im nächsten Dorf.
Das nächste Dorf hat stolze acht Einwohner und nichts desto Trotz eine geöffnete Bar. Ohne Bar kein Dorfleben, sagt der Nachbar der gerade „Schicht“ hat. Die Bar wird als kollektives Nachbarschaftszentrum betrieben, jeder hat einen Schlüssel, und eine Person hat „Schicht“. Das würde soweit ganz gut funktionieren, besser als keine Bar auf jeden Fall. Dem kann ich nur zustimmen.
Ich komme mit einem Landwirt ins Gespräch und frage ihn wie denn das alles so funktionieren würde mit der Agrikultur, ich sehe bestellte Äcker überall, verlassene Dörfer und nirgends Traktoren, geschweige denn offensichtliche Agrarbetriebe.
Er nimmt mich mit zu einem nahegelegenen unscheinbaren Schuppen, drinnen steht einerseits ein Mähdrescher, der gehört den Bauern aus den umliegenden Dörfern als Kollektiv, und zum anderen ein Hightec-Traktor, das wäre seiner. Er pflügt und erntet hauptsächlich nachts, da ist es kühler und das Wild im Feld würde eher flüchten als tagsüber. Auf dem Acker kann und darf sein Trecker autonom mit GPS fahren und dabei kuckt er Serien auf Netflix.
Sein Traktor hätte eine Viertelmillion gekostet, er würde fünfmal so viel Fläche bearbeiten wie sein Vater, der wiederum schon fünfmal so viel Fläche bearbeitet hat wie der Großvater. Aber er hätte auch fünfmal so viele Schulden, hauptsächlich wegen dem Traktor, wie sein Vater und der wiederum hätte fünfmal so viel Schulden wie der Großvater gehabt.
Nach diesem interessanten Nachmittag fahre ich etwa 25 Kilometer auf Landsträßchen über eine abgeerntete Hochebene und sehe dabei zweimal das Postauto und sonst kein einziges Fahrzeug. Zehn Kilometer vor Molina de Aragón fahre ich auf die Nationalstraße und zähle ein sieben Autos auf diesem Abschnitt.
Molina de Aragón hat viel Geschichte, ist aber auch nur ein Kleinstädtchen in Mitten von nichts. Ich finde einen Fahrradladen auf Google, als ich davor stehe, scheint dieser verrammelt und verlassen. Ich frage in der Bar um die Ecke, der Fahrradladen wäre schon geschlossen gewesen als er die Bar vor sieben Jahren übernommen hätte, sagt der Wirt. Mal wieder auf dem neuesten Stand das Google!
„Die Gleichberechtigung ist die Seele der Freiheit, tatsächlich gibt es keine Freiheit ohne sie“
Irgendeine Festivität wird heute stattfinden, das Städtchen ist geschmückt, Extratische überall herausgestellt, die jungen Damen präsentieren sich schon herausgeputzt, die jungen Herren sind ganz nervös am Gaspedal. Ich bin kurz am Überlegen zu bleiben und mitzufeiern finde aber keine preiswerte Unterkunft und schaue stattdessen dass ich weiterkomme.
Ich folge dem Rio Gallo und kurz bevor eine für ihre landschaftliche Schönheit bekannte Schlucht beginnt, halte ich an und studiere die Karten wo ich denn jetzt übernachten könnte, es wird bald dunkel.
Plötzlich steht ein Mann mit Hund auf Abendrunde vor mir und empfiehlt die kommende Schlucht nicht nachts zu fahren, dafür wäre sie viel zu schön. Stattdessen weist er mir den Weg zu einem versteckten Picknickplatz am Eingang der Schlucht und kommt wenig später mit Bier nochmal wieder.
Am nächsten Morgen muss ich ihm recht geben, es wäre quasi eine Sünde gewesen die Schlucht des Rio Gallo nicht bei Tageslicht zu passieren, interessante Steinformationen und ein regelrechter Urwald, Verkehr gleich null, irgendwann weit unten in der Schlucht endet die Straße und es geht über gute Piste zur Brücke des Heiligen Pedro. An diesem schönen Platz raste ich und nehme ein Bad im kühlen aber nicht kalten Gebirgsfluss.
Kurz dahinter beginnt die Piste, die durch das Tal des oberen Rio Tajo führt. Die Piste ist öffentlich zugänglich, offiziell sogar eine Landstraße, gut gepflegt und gut zu fahren, die Landschaft ist sehr schön anzusehen und ich treffe niemanden auf 30 Kilometer, lediglich auf einem Wanderparkplatz steht ein einziges Auto der Größe Fiat 500.
Die Schlucht ist spektakulär, Felsen, Stromschnellen, Geier, Adler, teilweise 40,50 dieser Vögel in der Luft, gepflegte Schutzhütten, alte Brücken, Brunnen mit Steintrögen und kein Mensch unterwegs, Mitte September.
Nach dreißig Kilometern traversiere ich kurz eine Landstraße und folge der Piste durchs Tal des Rio Tajo weitere fünf Kilometer bis zum Ende der Piste mit Bar und Wasserfall. Der Wasserfall ist jetzt im trockenen Herbst nicht allzu eindrucksvoll, die Bar ist geöffnet und es ist niemand dort außer dem Wirt, der mir einen Biwakplatz am Fluss empfiehlt.
Runter zum Fluss führt über wenige hundert Meter ein Pfad, eine pittoreske Hängebrücke führt ans andere Ufer, dort beginnt wiederum eine Piste, die nach kurzem steilen Anstieg bis zu einem Bergsee weiter spektakulär durch die Felsen und irgendwann ins kleine Dörfchen Peralejos de las Truchas führt.
Ich erreiche den Campingplatz in der Nähe des Dorfes knapp vor dem nächsten Gewitter und quartiere mich hier für zwei Nächte ein, weil es auch den ganzen nächsten Tag regnen soll. Der Campingplatz ist erstaunlich teuer, spartanisch, kaum besucht, das junge Team ist sehr nett, Hamburger braten und gute Musik auflegen können sie richtig gut.
Am nächsten Tag laufe ich zu Fuß ins Dorf und kaufe in dem kleinen aber sehr gut ausgestatten Dorfladen ein.
Nach vierzig Stunden Regen fahre ich weiter, dem Tajo kann man von hier nicht mehr mit dem Rad folgen, deshalb wechsele ich auf die westliche Seite des Flusses und klettere eine langanhaltende Steigung mit drei fiesen Rampen hoch, kein einziges Auto kommt vorbei. Oben angekommen finde ich einem kleinen Dorf eine unscheinbare Dorfbar. Ich trinke ein Radler und sitze ganz vergnügt vor der Bar als mir die Wirtin mitteilt, dass sie jetzt mit ihren Enkeln zum kleinen Wasserfall um die Ecke geht. Sie zeigt mir wo der Schlüssel liegt und falls ich noch was trinken will, soll ich mir nehmen, Geld auf den Tresen legen und dann wieder zusperren. Ich solle mich auch nicht wundern, falls jemand kommt und das gleiche macht, alle Nachbarn wüssten wo der Schlüssel liegt.
Den Nachmittag bummele ich über dieses hügelige Hochplateau, neben vielen Felsen und Geiern komme ich auch an Hochweiden und einer kleinen Flusslandschaft vorbei.
In einem Minidorf halte ich am Dorfbrunnen und komme mit einem alten Herren ins Gespräch. Er erzählt vom Bürgerkrieg und dass er bis heute nicht verstehen könne warum sich damals die Nachbarn gegenseitig erschossen hätten, obwohl sich doch alle so gut kannten. Sein etwa siebzigjähriger Sohn kommt dazu, meint der Vater hätte als Siebenjähriger erlebt wie der Krieg ins Dorf kam und seit ein paar Jahren würde über nichts anderes mehr sprechen, die achtzig Jahre dazwischen seien wie ausgelöscht. Er entschuldigt sich und nimmt den Vater mit ins Haus, er, der Sohn, müsse heute noch ins weit entfernte Madrid fahren wo er lebt, sein Vater wäre einer von drei noch verbliebenen Dorfbewohnern, vor fünfzig Jahren hätte hier noch über hundert Menschen gelebt. Autos den ganzen Tag, vielleicht ein halbes Dutzend.