"Willst du nicht mal wieder eine Fahrradtour machen?"
Diese Worte meiner Frau waren sozusagen der Startpunkt dieser Tour. Durch Hauskauf, Renovierung, Gartenumbau und nicht zuletzt die Geburt unseres ersten Sohnes war das Radfahren, von einigen Tagestouren und den Feierabendrunden abgesehen, doch reichlich zu kurz gekommen. Passenderweise hatte ich im April 2019 ein paar Tage Urlaub, meine Frau dagegen musste arbeiten.
Die erste Frage war "Wohin?". Für die paar Tage wollte ich nicht zu weit weg, also in Deutschland, An- oder Abreise mit der Bahn war auch gesetzt. Flussradweg? Nein, nix für mich, ein
bisschen Abenteuer und Querfeldein musste es schon sein. Etwas Recherche im Radreise-Wiki förderte den Weser-Harz-Heide-Radweg zutage, einen offenbar weniger beliebten Radfernweg quer durch Niedersachsen, der eigentlich alle Kriterien erfüllte, die ich mir so vorstellte. Übernachtungen plante ich wie sonst auch, "wild" in der Natur, in Schutzhütten oder in festen Unterkünften, je nach Laune und Verfügbarkeit.
Die zweite Frage war "Womit?" Nachdem mir mein Salsa Vaya geklaut wurde, war ich praktisch "Reiserad-los". Nach einer Übergangslösung hatte ich mir für zuhause einen Carbon-Cyclocrosser aufgebaut. Damit los? Warum eigentlich nicht? Noch schnell eine 36er Kassette besorgt und die Carradice Camper Longflap aus der Versenkung geholt. Sieht so "na ja" aus, funktioniert aber
Los ging es dann am 14. April mit dem IC von Itzehoe nach Göttingen und weiter nach Hann. Münden, wo ich mich in der Jugendherberge eingemietet hatt
Nachdem es abends noch leicht geregnet hatte, begrüßt mich am nächsten Morgen ein schöner Sonnenaufgang, kühl zwar, aber trocken.
Nach Frühstück in der JH, einer Rundfahrt durch die sehenswerte Altstadt von Hann. Münden und einem Stopp am Weserstein,
quasi dem offiziellen Startpunkt meiner Tour, ging es erstmal hoch hinaus.
Ich habe mir nämlich vorgenommen, auf den ersten Kilometern nicht der offiziellen Strecke zu folgen, sondern oberhalb davon durch den Wald zu fahren, um mir den Verlauf der alten
Bahnstrecke und die Reste des einzigen Eisenbahntunnels im Königreich Hannover anzusehen. Keine Gute Idee. Nach ziemlicher Quälerei über zerfurchte, schlammige und teils extem steile Forstwege stoße ich tatsächlich auf die alte Strecke und das Tunnelportal, auf dem noch original erhaltenen Schotter fährt es sich aber auch nicht besser.
Kurz darauf rutsche ich mitsamt meinem Fahrrad -auf dem Hosenboden- den Hang zum "offiziellen" Radweg im Schedetal hinunter.
Weiter geht es auf kleinen Straßen Richtung Göttingen. Am Vulkan Hoher Hagen wurde offenbar die Streckenführung geändert, hier fährt man jetzt auf der alten Bahnstrecke und entlang der B3 auf guten Radwegen nach Dransfeld.
Hinter Dransfeld verläuft die Strecke auf den weiten Schleifen der eigentlichen "Dransfelder Rampe" hinein in die Südstadt von Göttingen, die aber schnell wieder verlassen wird. Entlang der Leine und ein bisschen durch die Wiesen erreiche ich schnell die nächste ehemalige Bahntrasse, die Strecke der Gartetalbahn.
Die Garte ist ein munter fließendes Flüsschen in schöner Landschaft, und an der Strecke lässt der Frühling sein blaues Band schon heftig flattern.
Über die letzte Hügelkette und vorbei an der Nesselröder Warte erreiche ich Duderstadt, mit einer der -meiner Meinung nach- schönsten mittelalterlichen Altstädte in Deutschland.
Das Duderstädter Rathaus (rechts im Bild) sei allen Radreisenden wärmstens empfohlen: Die durch einen nach Münzeinwurf öffnenden Seiteneingang zugänglichen Toiletten sind sauber, und man kann sogar sein Fahrrad im Vorraum kameraüberwacht abstellen, während man mal in Ruhe und ohne Sorgen ums Gepäck das Örtchen aufsucht. Ein Aspekt, der in Reiseberichten oft zu kurz kommt, finde ich
Nach einem Stadtbummel, einem sehr guten Eis und kleinem Einkauf kurbele ich noch die Straße in Richtung Rote Warte hinauf, bevor ich mich auf die Suche nach meinem anvisierten Nachtquartier mache, einer Schutzhütte mitten im ehemaligen Grenzstreifen. Obwohl meine Tour eigentlich ausschließlich in Niedersachsen stattfindet, verbringe ich diese Nacht in Thüringen, direkt am Kolonnenweg.
Am nächsten Morgen ist es kalt, und zum Auftauen bin ich früh und zügig unterwegs, so dass ich der erste Gast des Tages am Quelltopf der Rhume in Rhumspringe bin.
Die große Karstquelle ist beeindruckend, und es ist noch ruhig. Ich verbringe hier einige Zeit und beobachte zwei (balzende?) Eisvögel und eine Wasseramsel auf ihrem morgendlichen Beutezug.
Als es auf der Straße nebenan lauter wird und weitere Besucher auftauchen, fahre ich weiter. Es geht -wieder auf einer alten Bahntrasse- nach Norden Richtung Harz. Ich habe kein festes Ziel für heute, will mal sehen wie weit ich komme. Ich bin absolut kein Bergfahrer und habe vor dem Aufstieg in den Harz doch Respekt. Dass es dann doch besser läuft als gedacht und ich weiter komme als erhofft, ahne ich jetzt noch nicht.
Über Herzberg (gefiel mir nicht so gut) erreiche ich Osterode, das ich wiederum sehr schön finde. Nach einem Einkauf auf dem großen Wochenmarkt in der schmucken Altstadt mache ich mich langsam an den Aufstieg im Tal der Söse. Am rechten Ufer der Söse geht es auf Forststraßen stetig bergauf bis zum mächtigen Erddamm der
Der Weg geht weiter hoch am Ufer des nach dem Winter noch gut gefüllten Stausees. Im trockenen Sommer 2019 wird sich der Füllstand noch deutlich verringern. Am nördlichen Ende des Stausees erreiche ich wieder die -angenehm leere- Bundesstraße. Auf glattem Asphalt geht es fast erholsam durch Riefensbeek und Kamschlacken. Trotz des wunderbaren Frühlingswetters sind die Orte praktisch noch im Winterschlaf. Am oberen Ende von Kamschlacken treffe ich eine Wandergruppe fortgeschrittenen Alters. Nach dem üblichen gegenseitigen Woher-Wohin teilen die Damen und Herren großzügig ihre üppige Mittagsverpflegung mit mir. Die körperliche und moralische Stärkung ist gut, denn hier zweigt die Strecke wieder in den Wald ab und der anstrengenste Teil der Tour beginnt. Auf Forstwegen geht es steil bergauf. Hier hat der Winter auch noch nicht ganz aufgegeben, in schattigen Ecken liegt noch Schnee, das Bett der Großen Söse ist teilweise noch mit Eis bedeckt. Trotzdem bin ich völlig durchgeschwitzt, als ich die Morgenbrodtshütte an einem großen Kreuzungsbauwerk der Harzer Wasserwirtschaft erreiche.
Hier wird Wasser der Großen Söse in den Morgenbrodtstaler Graben abgeleitet, der entlang der Höhenlinie in Richtung Dammgraben verläuft. Alles sehr gut erhalten und faszinierend, wie die alten Bergleute dieses riesige Wasserversorgungsnetz mit einfachsten Mitteln geschaffen haben.
Leider ist die alte Hütte abgerissen und durch einen simplen Unterstand ersetzt worden, der sich zum Übernachten nicht eignet. Also weiter. Entlang des Morgenbrodtstaler Grabens geht es erfreulich flach weiter. Auf einem schotterigen Forstweg am Dammhaus bin ich so begeistert, dass es bergab geht, dass ich es gleich übertreibe und mir einen Snakebite im Hinterreifen einfange.
Es bleibt der einzige Platten der Tour.
Der Abschnitt auf der Bahntrasse zwischen Altenau und Clausthal-Zellerfeld wird zum härtesten der ganzen Reise. Eigentlich mag ich Bahntrassenwege, aber dieser ist einfach schlecht. Der Boden ist aufgeweicht und glitschig und teilweise von Forstfahrzeugen zerfahren, obwohl er großteils auf einem hohen Damm verläuft. Und ich bin fertig. Ich bin heute viel weiter gefahren, als ich eigentlich wollte und viel mehr bergauf als seit langer Zeit. Nach diesem Tag möchte ich die Nacht eigentlich nicht draußen verbringen, die Unterkunftssuche in Clausthal-Zellerfeld ist aber eine ähnliche Katastrophe wie der Weg dahin. In der einzigen Pension, die geöffnet und halbwegs bezahlbar wäre, heißt es nur "Eine Nacht? Machen wir nicht!". So richte ich mich letzlich in einer großen Grillhütte am Rande eines Abenteuerspielplatzes häuslich ein. Es ist ein schöner Frühlingsabend und es gibt sogar ein sauberes Dixiklo. Und ich habe den höchsten Punkt der Tour erreicht und überwunden. So klingt mein anstrengender zweiter Tourtag doch noch versöhnlich aus.
Am nächsten Morgen ist es kalt. Sehr kalt. Als ich mich kurz nach Sonnenaufgang aus meinem Schlafsack schäle, friere ich sofort. Also nur schnell einen Müsliriegel eingeschoben, alle Oberteile, die ich mithabe übereinander und die warmen Handschuhe angezogen und los. Auf den ersten Kilometern folge ich nicht dem offiziellen Weg, sondern fahre wieder "Querfeldein". Wieder keine gute Idee. Die Wege sind so steil, diesmal bergab, dass mir der Angstschweiß ausbricht, was mich auch nicht wärmer macht.
Trotzdem erreiche ich Wildemann im Innerstetal mit heilen Knochen und Rädern. Ab hier folgt man der Innerstetalbahn auf gutem Asphalt- oder Betonbelag stetig bergab. Nach der Schinderei von gestern eigentlich sehr angenehm, allerdings ist es im tief eingeschnittenen Tal schattig und immer noch empfindlich kalt. Der munter plätschernde Fluss, der mehrmals überquert wird, hat überall Eiskanten.
Als ich mich schon langsam frage, ob eigentlich jemals die Sonne in dieses Tal scheint, erreich ich den Innerste-Stausee. Der See und der Staudamm liegen im schönsten Sonnenlicht. Ich fahre bis in die Mitte des Damms und setze mich in die dort auf eine Bank. Nach einem heißen Kaffee aus dem Brukit und reichlich Sonne tanken bin ich wieder soweit aufgetaut, dass ich meinen Weg nach Goslar fortsetzen kann.
Kurz darauf verpasse ich eine Abzweigung (bis heute bezweifle ich , ob es die eigentlich wirklich gibt) und verfahre mich daraufhin im Gewerbegebiet von Langelsheim. Trotzdem finde ich "irgendwie" nach Goslar und mache auf dem Marktplatz eine ausgiebige zweite Frühstückspause, inzwischen wieder bei frühlingshaften Temperaturen.
Ab Goslar folge ich der Oker an ihrem rechten Ufer Richtung Braunschweig, das für heute mein Ziel sein soll. Nach der anstrengenden Etappe gestern ist diese die reine Erholung. Hier ist es mal eine gute Entscheidung, nicht dem Radfernweg zu folgen, meine Strecke führt zwar ein Stück weit über eine Privatstraße, ist aber gut zu fahren und nicht so umwegig wie der ausgewiesene Weg.
Nach Braunschweig hinein geht es durch Parkanlagen entlang der Oker bis in die Innenstadt.
Heute möchte ich mir mal etwas gönnen und buche mich zeitig am Nachmittag in die JuHe Braunschweig ein, eine sehr große, moderne und gerade erst fertiggestellte Jugendherberge. Nach einer ausgiebigen Dusche mache ich, ausnahmsweise zu Fuß, einen Stadtbummel, besuche den Braunschweiger Löwen und esse in der Kulisse des Schlosses einen riesigen (und leckeren) Burger.
Die Etappe des nächsten Tage wird die längste, aber auch irgendwie unspektakulärste der Tour. Es geht durch sanfte Hügellandschaft und Moorniederungen. Die Lüneburger Heide kündigt sich an.
Auf der Brücke über den Mittellandkanal beobachte ich längere Zeit einen Rotmilan, der über dem Kanal seine Kreise zieht, ohne jemals mit den Flügeln zu schlagen.
Am Tankumsee bei Gifhorn treffe ich das erste Mal auf den Elbeseitenkanal, der mich später noch ein ganzes Stück begleiten wird.
Das
Otterzentrum in Hankensbüttel kommt spontan auf die Liste der Zwischenstopps für die nächste Wohnmobiltour. Meine Frau liebt Otter und freut sich sehr, als wir im Sommer hier Station machen.
Im Wald zwischen Bokel und Bad Bodenteich bekomme ich noch einmal den Rappel. Hier sehen die Wege aus wie so oft in der Lüneburger Heide: Zwei tiefe, sandige Fahrspuren, neben denen normalerweise etwas erhöht ein befestigter Pfad für Radfahrer angelegt ist. Hier haben allerdings offenbar Wildschweine auf Nahrungssuche den kompletten Weg, teilweise noch mehrere Meter in den den Wald hinein kilometerweit regelrecht umgepflügt. Vollkommen unbefahrbar und selbst schiebend sehr anstrengend durch den feinen Sand, wie am Strand. Mein lautes Fluchen hält aber zumindest weitere Wildschweine auf Distanz
An der Kanalbrücke in Bad Bodenteich habe ich endlich wieder festen Boden unter den Reifen und beschließe, noch bis Uelzen weiter zu fahren, um dort die Jugendherberge aufzusuchen. Daraus wird aber nichts, die JH hat ausgerechnet in dieser Woche geschlossen. Kurz entschlossen setze ich mich am Hundertwasser-Bahnhof in den Zug und fahre nach Lüneburg, wo ich telefonisch noch ein Bett in der JH ergattern kan
Früh am nächsten Tag, die Lüneburger Altstadt schläft noch, starte ich zum Endspurt.
Entlang des Elbe-Seitenkanals mit seinen Trogbrücken erreiche ich das Schiffshebewerk in Scharnebeck. Das kenne ich zwar schon, ist aber immer wieder beeindruckend. Allein die Gerüstkonstruktion, die derzeit eine Hälfte des Bauwerks einhüllt, ist gigantisch.
Wenige Kilometer weiter erreiche ich die Elbe.
Irgendwie ein Schlusspunkt der Reise. Bis hier her habe ich geplant. Andererseits auch nicht. Ich muss ja noch nach Hause. In Lauenburg gäbe es einen Bahnhof, von dort komme ich aber nur nach Lübeck. Zurück nach Lüneburg will ich auch nicht. Also nach Hamburg.
Inzwischen ist es so warm geworden, dass ich das erste mal auf der Tour in die kurze Hose wechsle und dann noch einmal richtig Gas gebe. Der Ostwind, der mir vor drei Tagen in den Hügeln vor Duderstadt noch entgegenblies, schiebt mich jetzt zügig Richtung Westen. Es ist Samstag, und der Elberadweg ist entsprechend mit etlichen Gruppen von meist e-motorisierten Radfahrern bevölkert. Das behindert das Vorankommen zeitweise beträchtlich. Mein Eindruck ist immer wieder, da wo bei Tieren die Schwarmintelligenz zu wirken beginnt, hört die Intelligenz beim Menschen auf...
Ab Winsen bin ich auf meiner alten Hausstrecke und erreiche schnell Harburg, wo ich das Schlussfoto der Tour da mache, wo ich noch vor ein paar Jahren meine Touren stets begonnen habe, an der Alten Harburger Elbbrücke.
Auf dem Weg zum Hauptbahnhof verfahre ich mich noch gnadenlos im Wilhelmsburger Inselpark. Seit ich das letzte Mal hier war, ist die Gegend komplett umgebaut worden, und meine alten vertrauten Wege gibt es nicht mehr. Vom Hamburger Hauptbahnhof fahre ich mit dem Zug bis Krempe, wo es bei meinem Bruder im Garten ein Einlaufbier gibt.
Die letzten Kilometer bis nach Hause lege ich noch auf eigener Achse zurück.