Der Bericht mit allen Fotos unter www.bikeload.comIn der letzten Woche habe ich mich auf knapp 3.200 Metern Höhe etwas akklimatisiert und damit hoffentlich ein wenig an die Höhe in Tibet angepasst. Einzig eine sich im Frühstadium befindliche Erkältung, also nichts was man bei körperlicher Anstrengung oberhalb von 3.500 Metern wirklich braucht, macht mir etwas Sorgen. Diese Woche muss ich meinen Rhythmus für das Reisen in Tibet finden. Es liegen noch 1.800 Kilometer vor mir.
19. Mai 2014: Hekaxiang bis 17 Daoban (56 km / 937 hm)Beim morgendlichen Frühstück nebenan im kleinen tibetischen Restaurant packen mir die fürsorglichen Tibeter, die ich schon gestern in der netten Abendessenrunde kennengelernt habe, noch ein paar leckere Gemüsepasteten ein und bestehen darauf, dafür kein Geld zu nehmen. Ein Blick aus dem Fenster macht mir Lust auf den Tag. Die Sonne scheint, es ist fast windstill. Als ich mich verabschiede stehen alle in der Hotellobby und wünschen mir eine gute Fahrt!
Von meinem Startpunkt am Hotel auf 3.300 Metern aus geht es nun beständig mit einer geschätzten Steigung von 5 % bergauf, so dass ich trotz meiner beginnenden Erkältung ruhig treten kann. Neben der Strecke sind Chinesen dabei, das Land unter gewaltigen Kraftanstrengungen mit Autobahnen zu erschließen, so wie Pinochet in Chile in den 80er Jahren den Bau der Carretera Austral eingeleitet hat. Ab 3.700 Metern wird die Luft wieder sehr dünn und das Atmen fällt mir schwer, so dass ich öfter eine kurze Pause einlege. Abgesehen davon, dass ich ständig hupend gegrüßt werde (den Hupenden, insbesondere den LKW mit ihren lauten Sirenen, fehlt offensichtlich jedes Vorstellungsvermögen dafür, dass dieser Lärm für mich nicht angenehm sein könnte ...), halten oder fahren immer wieder ganz dicht neben mir Autos, die Fenster werden runtergelassen und ich werde ohne jede Zurückhaltung einfach nur angestarrt; gelegentlich wird mit dem Smartphone ein schnelles Foto geschossen bevor es weitergeht.
Dann stehe ich plötzlich vor einem Tunnel, der sich wie ein großes schwarzes Loch im Berg verliert und einen LKW nach dem anderen verschlingt. Den Schildern kann ich nicht entnehmen, ob der unbeleuchtete Tunnel nun 2,3 km oder 3,8 km lang ist. Eine Ausweichmöglichkeit sehe ich aber leider auch nicht, so dass ich ein paar Mal Luft hole, meine blinkende Rückleuchte einschalte und dann in den Tunnel hineinfahre. Die Fahrt ist heftiger als ich vermutete. Eine Lüftung gibt es nicht und wann immer mich ein LKW in dem ansteigenden Tunnel überholt werde ich in eine Wolke von Abgasen eingehüllt, die mich gesundheitlich sofort auf das Niveau eines Kettenrauchers drückt. Als ich den Tunnel nach einer gefühlten Ewigkeit (ich glaube es waren „nur“ 2,3 km) wieder verlasse, blendet mich die Sonne und ich schnappe gierig nach Luft wie ein Schwimmer nach Durchtauchen einer 50-Meter-Bahn im Schwimmbad. Hinter mich blickend sehe ich die Abgaswolken aus dem Tunnel nach oben steigen und die über dem Tunneleingang hängenden, ehemals prachtvoll bunten Gebetsfahnen in ein noch tieferes Schwarz tauchen. Ein Gutes hat die Situation: Jetzt bin ich oben und überblicke von hier aus eine weitflächige, goldgelbe Hochebene.
Nach einer schönen Abfahrt mit Blick auf das weite Tal und die schneebedeckten Bergspitzen im Hintergrund winkt mich am Straßenrand eine tibetische Familie zu sich, die hier gerade eine Pause eingelegt hat. Fotos, Essen, Trinken, Landkarte und meine Visitenkarten bieten trotz Verständigungsschwierigkeiten wieder genug Unterhaltungsstoff. Ich bekomme Buttertee, Käse und Tsamba. Tsamba ist ein dunkles Mehl, das einen festen Platz in der tibetischen Ernährung hat. Es wird meist mit Buttertee (sehr lecker: schwarzer Tee mit Yakbutter und Salz) und Zucker in einer Schüssel zu einem Brei verknetet und dann mit den Fingern gegessen. Ein exzellenter, sehr leckerer Energiespender!
Nachdem ich mich verabschiedet habe und die ersten 35 Kilometer des Tages hinter mich gelassen habe, bekomme ich plötzlich Rückenschmerzen. Das erste Mal auf meiner Tour! Wider mein besseres Wissen, was gut für mich wäre, habe ich mir in den letzten 2 Monaten keine einzige Massage und kaum Yoga gegönnt, so dass meine Rückenmuskulatur und vor allem mein Nacken völlig verkrampft und verhärtet sind. Die Quittung bekomme ich jetzt und eine Massagepraxis ist jetzt so weit entfernt wie lange nicht mehr. Aber Platz für Yoga habe ich! Also stelle ich mein Rad am Straßenrand ab, steige auf eine flache Ebene in Straßennähe und absolviere zur Begeisterung der vorbeifahrenden LKWs meine erste Yogastunde seit Ewigkeiten. Bei den Dehnübungen schmerzt die widerspenstige, verhärtete Muskulatur und als ich meine Wirbelsäule im Liegen seitlich ziehe, lösen sich laut knackend einige verspannte Wirbel. Und - o Wunder - die Schmerzen sind weg!
Tipp: Ich kann jedem Langzeitreisenden auf dem Rad nur wärmstens empfehlen, sich um mehr als um die Beine zu kümmern! Kräftigungsübungen mit den bepackten Packtaschen als Hantelersatz für den Oberkörper, Yogaübungen und gelegentliche Massagen erhöhen das Wohlbefinden und die Balance ganz erheblich und sorgen dafür, dass es aufgrund der einseitigen Belastung des Radfahrens nicht zu ungesunden körperlichen Erscheinungen kommt! Ich wünschte, ich würde mich selbst öfter daran halten!
Dann durchfahre ich einen jener Durchgangsorte, die offensichtlich nur für die Versorgung der vorbeifahrenden LKW und der mit dem Straßen- und Autobahnbau beschäftigten Bauarbeiter gedacht sind. Der auf Google-Maps „verpasste“ Name „17 Daoban“ scheint das zu bestätigen. Ca. 30 baugleiche Buden reihen sich am Straßenrand auf. Es gibt ein Restaurant, Reifenhändler, Reparaturwerkstätten, einen Gemüseladen und eine Absteige. Zunächst habe ich keine Lust, auf das kleine Zimmer ohne Duschmöglichkeit und großem Fenster zum Flur. Als ich dann aber nett zum Essen eingeladen werde und auch noch eine rohe Zwiebel und Ingwertee gegen meine Erkältung bekomme, beziehe ich für 3,50 EUR dann doch das „Zimmer“. Vielleicht eine ganz vernünftige Entscheidung! Ich trinke viel heißes Wasser, hänge das Fenster zum beleuchteten Flur mit meinem Seidenschlafsack zu, verpasse mir die Ohrstöpsel und rolle mich dann früh und ermattet in meinen Daunenschlafsack. Dem gestellten Bettlaken traue ich noch den einen oder anderen „Bewohner“ zu, auf den ich keinen Wert lege …. Als ich gerade einnicke, werde ich nochmals durch einen höllischen Lärm geweckt: Vor meinem Fenster kämpfen zwei große tibetische Hunde miteinander ... Gut dass ich mein Pfefferspray und einen massiven Gummischlauch an meinem Rad griffbereit habe ...
20. Mai 2014: 17 Daoban – Wenquancun (54 km / 981 hm)Als ich am Morgen aufwache bin ich von „fit“ recht weit entfernt. Gleichzeitig habe ich nun wirklich keine Lust, ausgerechnet in diesem Fernfahrer-Durchgangskaff einen Tag Pause einzulegen! Die Sonne scheint und das Bergpanorama ist wunderschön. Also entscheide ich mich nach dem Frühstück langsam weiterzufahren. Das Busfahren (falls die Radmitnahme überhaupt möglich sein sollte ...) möchte ich mir für die Etappen mit extrem schlechten Straßenverhältnissen (insbesondere Straßenbau) und eventuelle Schlechtwettertage aufsparen.
Ich unterhalte mich ein wenig mit den tibetischen Besitzern des Lokals in der Garküche und bekomme dann zum Frühstück eine rohe Zwiebel, Ingwertee und Rühreier mit Tomaten. Während des Frühstücks lese ich auf dem iPhone ein paar aktuelle Nachrichten zu China: Nachdem China mit Ölbohrungen im südchinesischen Meer in der Nähe der Paracel Inseln begonnen hat – die Inseln werden von China kontrolliert, aber von Vietnam ebenso wie von Taiwan als Hoheitsgebiet beansprucht – ist es in Vietnam zu heftigen Ausschreitungen gekommen. Die Massenproteste richteten sich gegen China und führten zu gewalttätigen Ausschreitungen auch gegen im Land lebende Chinesen und chinesische Einrichtungen. Das hat Apple-Zulieferer Foxconn veranlasst, seine Fabrik in Vietnam für zunächst drei Tage zu schließen. Es wird spannend sein zu sehen, wie China mit diesem Konflikt umgehen wird.
Als ich mir in der Küche neues, heißes Wasser für meinen Tee einschenke, bekommt einer der chinesischen Truckfahrer mit, dass ich einen Zettel zur Verständigung genutzt habe. Er kommt rüber, möchte den Zettel sehen und natürlich auch anfassen. Als er merkt, dass sich auf dem Zettel tibetische Schriftzeichen befinden regt er sich plötzlich ziemlich auf. Er bäumt sich, sofern das bei geschätzten 1,55 m beeindruckend möglich ist, vor mir auf und brüllt irgendetwas, das ich nicht verstehe. Die Gastwirtin betrachtet die Szene, wie mir scheint, mit besorgtem Blick. Zugegebenermaßen bin ich weniger beeindruckt, nehme den Zettel wieder an mich, entgegne auf Englisch „Sorry, I don’t speak Chinese“ und setze mich wieder, um meinen Ingwertee zu Ende zu trinken. Der Chinese, der sich eben noch vor mir aufgebäumt hat, scheint etwas irritiert und zieht sich dann unwirsch zurück. Als ich kurz darauf mein Frühstück bezahlen möchte, signalisiert mir die tibetische Familie des Lokals, dass ich mich als eingeladen betrachten soll und strahlt über das ganze Gesicht. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass ihnen der Ausgang der Situation von eben gefallen hat. Ich höre auch im Nachfolgenden immer wieder, dass die Beziehungen der zugezogenen, im Straßenbau arbeitenden oder durchreisenden Han-Chinesen mit der einheimischen tibetischen Bevölkerung nicht frei von Spannungen sind.
Von Anfang an geht es heute bergauf. Die Steigungen sind mit geschätzten 4-6 % moderat und gut zu fahren, bis ich die Marke von über 4.100 m erreiche. Jetzt lege ich immer öfter eine Pause ein, nutze die Zeit für ein paar Yoga-Sonnengrüße und kann doch das Wiederauftreten der Kopfschmerzen nicht verhindern. Ab 4.200 m schiebe ich, um die Kopfschmerzen in den Griff zu bekommen. Meine Versuche, per Anhalter zu fahren, scheitern. Zum Glück ziehen die dunklen Wolken vorbei und ich bleibe wenigstens von einem Regenschauer verschont, der in dieser Höhe auch gleich mit einem erheblichen Temperaturfall einhergehen würde. Aber auch so wird es wird deutlich kälter, so dass ich mir die warmen Handschuhe, Mütze und Winterjacke anziehe. Nach 37 km und viele Pausen später habe ich die Passhöhe von 4.500 Metern endlich erreicht. Die Kopfschmerzen sind in Anbetracht der schönen Aussicht auf die tibetischen Gebetsfahnen und die umliegenden Berge vergessen. Der angenehme Anblick wird nur dadurch getrübt, dass für viele ein Besuch des Passes mit einem Saufgelage verbunden zu sein scheint, nach dessen Abschluss man die Wodka- und Bierflaschen einfach vor Ort liegen lässt.
Die Abfahrt führt nach ein paar Serpentinen durch ein kurzes Stück Baustelle und lässt mich kurz gewahr werden, wie viel härter das Vorwärtskommen auf Schotter ist. Dann liegt die üble Piste aber auch schon wieder hinter mir und weiter geht es auf einer gut geteerten Straße, vorbei an einer weiteren Station für den Autobahnbau und mächtigen Säulen, die die Stützen für eine neue Autobahnbrücke darstellen. Die Erschließung von Tibet per Straßen (einhergehend mit einer intensiven Besiedlungspolitik durch Han-Chinesen) ist etwas, das China offensichtlich mit viel Nachdruck verfolgt.
Mit Einbruch der Dunkelheit erreiche ich Wenquancun. Auch diese Stadt scheint nur von Fernfahrern zu leben. Ich finde eine sehr bescheidene Unterkunft mit harter Pritsche, Licht und Vorhängen. Einen Wasseranschluss gibt es allerdings auch hier nicht und abschließen kann ich mein Zimmer nur, weil ich auf dieser Reise immer ein kleines Vorhängeschloss mit mir führe.
Interessante Begegnungen im Restaurant:
Entlang der Durchgangsstraße hat sich eine Vielzahl von Restaurants angesiedelt, so dass die Organisation eines Abendessens auch hier nicht schwer fällt. Insbesondere die Kombination meiner Zettel mit den an den Wänden vieler Restaurants angebrachten Essenfotos macht die Sache einfach. Das bringt mich auf eine Idee, die sich in den nachfolgenden Wochen, insbesondere in sehr abgelegenen Gegenden, als sehr hilfreich erweisen wird: Ich fotografiere die Speisen, die ich besonders mag und von denen ich weiß, dass sie vegetarisch sind, sortiere diese dann in ein separates Fotoalbum „Essen“ auf mein Smartphone und zeige fortan unterstützend auf die Fotos, wenn ich in einem Restaurant bestelle.
Wie üblich werde ich auch hier unablässig angestarrt und mein iPhone wollen sie auch unbedingt sehen, obwohl jeder von ihnen ein eigenes iPhone, teilweise auch von der vorherigen Generation, hat. Die Jungs sind nicht kontaktscheu, lassen sich gleichzeitig aber auf Abstand halten, wenn man dies deutlich signalisiert. Beispielsweise ist es in China üblich, vor allem auch mit den Händen „zu sehen“. Man möchte mein iPhone in die Hand nehmen und damit spielen. Als ich dies einmal kurz und deutlich ablehne ist dies kein weiteres Thema mehr und niemand ist beleidigt. Man starrt mich weiter an und ist bester Laune.
Erfreulich stelle ich fest, dass meine Kopfschmerzen wieder weg sind. Der Abstieg von 4.500m auf 3.900m hat deutlich geholfen. Letztendlich ist dies immer der einfachste Weg, auf Anzeichen der Höhenkrankheit zu reagieren.
21. Mai 2014: Wenquancun - Huashixia (76 km / 1.100 hm)In dieser Nacht habe ich fast durchgeschlafen. Das Hundegebell war nur entfernt zu hören und die harte Pritsche hat mich nicht gestört. Trotzdem fühle ich mich nach wie vor nicht fit.
Mein Plan: Bis zum nächsten größeren Ort sind es knapp 75 km und sicher einige Höhenmeter. Ich werde bei dem sonnigen Wetter versuchen, es bis dorthin zu schaffen, mir ein vernünftiges Hotel suchen (sofern es das dort gibt), morgen den Bus nehmen und damit einen Tag Auszeit gönnen. Ich muss eh‘ einige Kilometer anders zurücklegen, da die Gesamtstrecke bis Dali für die mir zur Verfügung stehende Zeit zu lang ist.
Nach einer Runde durchs Dorf breche ich auf und erreiche nach 17 km und 600 Höhenmetern den Pass auf 4.475 m. Es ist 14 Uhr und ich bin jetzt schon erschöpft, obwohl noch 60 Kilometer vor mir liegen. Irgendwie geht es dann doch, und so erreiche ich am Abend nach 1.100 Höhenmetern den Ort Huashixia.
Der Ort Huashixia ist wesentlich kleiner als von mir vermutet und ein gutes Hotel gibt es hier auf jeden Fall nicht. Im Zelt möchte ich mit meiner Erkältung aber auch nicht bleiben. Enttäuscht und erschöpft begebe ich mich auf die Suche. In einem tibetischen Gemeindehaus wird mir zunächst Unterschlupf angeboten; dann aber kommt eine Art „tibetischer Häuptling“ vorbei, mustert mich und lehnt es ab! Die zweite ins Auge gefasste Unterkunft ist recht schmuddelig, aber auch nicht viel schlimmer als die Unterkunft von letzter Nacht. Der offensichtlich alkoholisierte Hauswirt macht auf mich keinen allzu sympathischen Eindruck und als er dann noch versucht, mein Rad gewaltsam in das Zimmer zu schieben und dann auf mein mehrmaliges Nachfragen 120 CNY / 14 EUR verlangt, reicht es dann auch und ich verschwinde mit einer ablehnenden Geste. Schließlich finde ich eine einfache, recht saubere Unterkunft mit einem großes, hellen Zimmer und einem großen Bett für 100 CNY. Vor dem Zimmer steht eine Wasserschüssel. Meine Ansprüche sind inzwischen nicht mehr allzu hoch und den paar Zigarettenkippen auf dem Boden kann ich ja ausweichen ;-)
Ich gehe früh ins Bett und hoffe, dass ich von hier aus morgen früh einen Bus bekommen werde, um mir die dringend notwendige Pause zu verschaffen.
22. Mai 2014: Huashixia – Madoi (84 km / 529 hm)Beim Aufwachen geht es mir nicht besser. Ganz im Gegenteil! Die Lunge ist zu und ich huste in kleinen, sehr unangenehmen Hustenanfällen, gelben Schleim. Igitt! Ich entscheide, eine weitere Verschlechterung nicht zu riskieren und sofort zu einem Antibiotika (Amoxicillin 500) zu greifen. So selten wie ich Medikamente nehme, halte ich das in der jetzigen Situation für vertretbar, um möglichst schnell eine Besserung zu erzielen. Immerhin habe ich auf meiner Reise noch nicht einen einzigen Tag irgendein Medikament genommen (wenn man von ASS für einige Langstreckenflüge und zur Akklimatisierung absieht). Das ist wahrscheinlich weniger als der durchschnittliche „Schreibtischtäter“ sich über das Jahr so einwirft und ganz bestimmt viel weniger als der durchschnittliche Fleischesser unwissend an Medikamenten zu sich nimmt.
Die geplante Fahrt mit dem Bus ist dann doch nicht so einfach zu realisieren. Zwar bekomme ich heraus, dass die Busse an der Tankstelle am Ortseingang abfahren; der nächste Bus nach Yushu wird aber erst für 17:30 Uhr erwartet und Fahrräder würden die Busse ohnehin nicht mitnehmen ... Ich spreche den Besitzer eines Pick-Ups (ein Geländewagen mit einer offenen Ladefläche) an, der gerade sein Benzin bezahlt. Es stellt sich heraus, dass er ins 83 km entfernte Madoi fährt (wird „Mado“ ausgesprochen). Das liegt auf meinem Weg und wäre ein gutes Stück des Weges. Der sympathische Mann erklärt sich einverstanden, mich mitzunehmen und ich genieße die Fahrt über die Hochebene entspannt vom Beifahrersitz aus.
Um 12 Uhr erreichen wir Madoi. Ich verabschiede mich und als ich dann auf der Hauptstraße des Ortes stehe, bin ich wie immer sofort von neugierigen Menschen umringt. Auf meine Frage nach einem Bus wird mir geantwortet es gäbe keinen Bus. Ein Hotel gäbe es auch nicht. So recht mag ich das nicht glauben und drehe daraufhin erst einmal eine Runde durchs Dorf. Auch hier wird fleißig gebaut und insbesondere die offiziellen Gebäude von Polizei und Verwaltung sind riesig (mit den obligatorischen modernen, weißen Geländewagen vor der Tür). Auch fällt auf, dass fast jeder Zweite deutlich sichtbar mit einem iPhone rumläuft (ich bin wahrscheinlich der Einzige der sein iPhone mit der unattraktiven aber wirksamen LifeProof-Hülle “tarnt“).
Dann gehe ich in ein Haus, das ich für ein Restaurant halte und lande ... in einer Hotellobby! Aha, soviel dazu, dass es hier kein Hotel gibt! Vier Zimmerkategorien gibt es zur Auswahl. Für die angeschlagenen Preise wird mir aber sofort ein "Daily Discount-Zettel“ gegeben. 268 CNY (31 EUR) für ein großes Doppelzimmer mit Internet und eigenem Bad und dem üblichen Schmuddelfaktor ist das „Angebot“. Nach 2 Nächten ohne Dusche wäre das jetzt nicht das Schlechteste. Der Preis ist aber natürlich unverschämt. Schließlich einigen wir uns auf 208 CNY (24 EUR). Für weitere 50 CNY / 6 EUR bekomme ich meine ganze Wäsche gemacht und bin happy.
Nachdem ich mich den Tag über ausgeruht habe, esse ich abends im hauseigenen Restaurant und werde nacheinander von 2 Gruppen angesprochen. Alle sind unglaublich nett auch wenn die Verständigung extrem mühsam ist.
23. Mai 2014: Madai – Longrenda (211 km / 1.323 hm)Ich habe in dieser Nacht fast gar nicht geschlafen. Mehrmals bin ich aufgestanden, habe das extrem schlecht zu lüftende Zimmer verlassen und vor dem Haus mit tiefen Zügen die kalte Nachtluft eingeatmet. Einerseits habe ich das Gefühl, dass das Medikament schon anfängt zu wirken und die Erkältung zurückgedrängt wird. Anderseits habe ich eine sehr unregelmäßige, flache Atmung mit einem unruhigen Herzschlag. Wahrscheinlich macht mir die Höhe von derzeit knapp 4.300 m immer noch zu schaffen.
Ich habe die Gesamtstrecke nochmals mit GoogleMaps durchgerechnet und mir dazu auch Tourenvorschläge von anderen Radfahrern auf Foren angeschaut. Wenn ich viel auf Nebenstrecken unterwegs sein will, insbesondere auf dem letzten Stück, dann wären dies
1. Abschnitt: Madoi bis Garze = 687 km
2. Abschnitt: Garze bis Yunnan = 800 km
3. Abschnitt: Yunnan bis Dali = 616 km
Summe: 2.103 km / 18 verbleibende Fahrradtage = 117 km pro Tag!
Das ist nicht zu schaffen! 80 km am Tag sind mir bei dieser Höhe und dem Gepäck schon mehr als genug. Also werde ich Teilstrecken anders zurücklegen müssen. Fragt sich nur, welche Strecken! Der Vorschlag aus dem Rad-Forum ist einheitlich: Je weiter man kommt, umso interessanter wird die Strecke; also wenn möglich, sollte ich jetzt Teilstrecken per Bus oder Anhalter zurücklegen! Das würde auch meinem derzeitigen Gesundheitszustand und Fitnesslevel entgegenkommen!
Ich packe also zusammen, checke aus und fahre wieder an die Hauptstraße Nr. 214, wo ich mich ab 11 Uhr um eine Mitfahrgelegenheit bemühe. Das läuft zunächst äußerst zäh ab. Es kommen kaum Autos und Trucks vorbei. Die wenigen, die vorbeikommen, winken sofort ab. Zwei sehr unsympathische Kerle bieten mir an, mich für 300 EUR mit ihrem Auto die 330 km bis Yushu fahren. Nein, danke! Ein größeres Taxi (perfekt für das Rad) kommt vorbei und bietet die Tour für knapp 150 EUR an. Das klingt schon besser, ist aber immer noch heftig, insbesondere wenn man berücksichtigt, dass die täglichen Kosten für Essen und Unterkunft hier durchschnittlich unter 20 EUR liegen. Zu diesem Zeitpunkt möchte ich weiter auf einen Bus warten.
Schließlich treffe ich auf vier Typen mit einem Pick-Up, die mich für 12 EUR bis kurz hinter das 180 km entfernte Quingshuihezhen mitnehmen wollen. Ich stimme zu, weil ich inzwischen auch keine Lust mehr habe, länger zu warten. Am Ende bin ich ganz froh, dass ich die nun folgende üble Schotterpiste nicht mit dem Rad zurücklegen muss.
An einer einsamer Kreuzung, 10 km nach Quingshuihezhen werde ich dann rausgelassen. Von den dort in einem Zelt lebenden Tibetern bekomme ich Yakmilch und heißes Wasser in meine Radflaschen gefüllt.
https://dl.dropboxusercontent.com/u/106344909/Tibet%20II_19.-25.Mai%202014/_DSC6682.jpgTipp: Die Tibeter trinken viel heißes Wasser, dass man in jedem Restaurant kostenlos zu seiner Mahlzeit gereicht bekommt. Meist haben sie auch nichts dagegen, wenn man sich hier seine Wasserflaschen auffüllt. Die typischen Radflaschen auf Plastik sind dafür allerdings wenig geeignet, weil sie die Hitze nur kurz halten und das heiße Wasser die gesundheitsschädliche Chemikalie Bisphenol A aus dem Polycarbonat (Kunststoff, der meist bei Radflaschen Verwendung findet) gegenüber Wasser bei Zimmertemperatur in bis zu fünfzigfacher Menge löst! Aluflaschen oder sogar eine Thermoskanne sind hier wesentlich besser geeignet!
Nur gelegentlich fährt ein Auto vorbei, so dass ich die Hoffnung, per Anhalter weiterzukommen, schnell aufgebe. Also radle ich weiter und versuche, mich mit einem lockeren Tritt nicht zu sehr zu verausgaben. Die Landschaft ist wunderschön. Es geht an einem Fluss entlang und immer wieder sehe ich große Yakherden.
Und dann passiert es! Lange habe ich damit gerechnet und trotzdem kommt es jetzt überraschend. Wie aus dem Nichts tauchen plötzlich zwei riesige tibetische Hunde auf. Einer von rechts und einer von links kommend nehmen sie mich in die Zange. Pfefferspray macht bei dem Wind keinen Sinn! Erst jetzt merke ich, dass der Wasserschlauch wohl noch auf der Ladefläche des Pick-Ups liegt ... Mist! Als die Hunde meinen Waden gefährlich nahe kommen und ich nicht den Eindruck gewinne, dass die beiden nur spielen wollen, lege ich einen Sprint ein und schaffe es schließlich, die Hunde abzuhängen. Dafür klopf mein Herz jetzt bis zum Hals und die Luft, die ich auf 4.300 Meter gierig in meine Lungen sauge verschafft mir nur langsam Linderung.
Bei der nächsten Gelegenheit sammle ich am Straßenrand ein ca. 80 cm langes, 1 cm dickes, stabil wirkendes Kabel auf. Und das ist auch gut so! Denn kurz darauf kommen wieder mehrere Hunde gleichzeitig aus allen Richtungen auf mich zugeschossen. Als ich mit dem Kabel eine Schlagbewegung durch die Luft mache, bleibt einer sofort stehen und ein anderer dreht lustlos ab. Der Dritte, größere und ganz übel vernarbte Köter lässt sich davon nicht abschrecken und bleibt aggressiv an mir dran. Als er mir gefährlich nahe kommt, erwische ich ihn mit dem Kabel am Kopf. Er jault zwar nicht auf, lässt daraufhin aber sofort von weiteren Manövern ab.
Bei Sonnenuntergang schiebe ich mein Rad durch eine Zaunöffnung auf eine große Ebene oberhalb der Straße. Hier kann ich von der Straße aus nicht gesehen werden und muss daher nicht mit ungebetenen (menschlichen) Besuchern rechnen. Während ich mein Zelt aufbaue, sehe ich in der Ferne ein paar große tibetische Zelte. Von dort ertönt ein sattes Bellen. Ich hoffe die Hunde bleiben dort ...
24. Mai 2014: Longrenda – Xiewusi (78 km / 473 hm)In der Nacht ist es bitterkalt (Ich schätze ca. -12° C). Dafür gibt es einen fantastischen Sternenhimmel!
Als ich um 7 Uhr aufstehe sind mein Zelt und Rad mit Reif bedeckt und unweit des Zeltes zieht eine Yakherde vorbei. Auf der gesamten Wiese haben Wühlmäuse den Boden aufgegraben und immer wieder sehe ich eine dieser schnellen Mäuse über die Wiese rennen und dann blitzschnell in einem Loch verschwinden. Die Sonne trocknet das Zelt recht schnell, so dass ich kurze Zeit später aufbrechen kann.
25 Kilometer weiter erreiche ich das Dorf Zhenqinxiang mit einem tibetischen Tempel am Ortseingang. Meine Fotosammlung „Essen“ findet nun ein erstes Mal seine Anwendung und erleichtert die Bestellung des Frühstücks in dem kleinen, sehr dunklen Restaurant an der Hauptstraße.
Die weitere Strecke, mit einer Anfahrt zum 4.500 Meter hohen Pass lässt sich gut fahren. Ich treffe eine Familie, die hier oben einen ganzen Karton Gebetszettel in den immer stärker werdenden Wind wirft, so dass die Zettel durch den Wind in die Landschaft getragen werden. Auch ich werde mit einem kleinen Packen versorgt. Wie praktisch! Man muss sich gar keine eigenen, kreativen Gedanken um seine Wünsche mehr machen oder gar eine Steinplatte einritzen (wie dies hier einige immer noch machen) sondern man kauft einen Karton Zettel und wirft sie in den Wind! ... Die Familie besteht darauf, dass ich während der Nacht bei Ihnen bleibe. Ich zeige auf der Karte wo ich hinmöchte und sie nicken. Dann werde ich noch mit zwei Joghurts versorgt! Supernett! Leider wird dann später doch nichts aus dem Wiedersehen, weil sich herausstellt, dass sie in der noch 45 km entfernten Stadt Yushu wohnen, die gar nicht auf meiner Strecke liegt.
Kurz darauf kommt ein heftiger Wetterumschwung. Ich ziehe mich warm an und während ich die Serpentinen hinunterfahre, beginnt es zu stürmen und zu hageln. Ich muss nochmals halten und mich vollständig mit meinen Regensachen und Gesichtsschutz einkleiden. Als ich weiter ins Tal komme (wir sprechen immer noch von über 3.900m ...) verwandelt sich der Hagel in Regen. Die Straße leuchtet jetzt in allen Regenbogenfarben, weil die schweren LKW wohl eine ganze Menge Öl verloren haben. In Anbetracht des sehr gering ausgeprägten Umweltbewusstseins der Chinesen denke ich nicht, dass dies hier irgendjemanden interessiert oder jemandem überhaupt auffällt.
Nass und ziemlich dreckig komme ich in nach 78 Tageskilometern schließlich in Xiewusi an. Die Stadt liegt von Bergen umgeben an einer Kreuzung. Ich werde hier morgen die Hauptstraße verlassen und über die Berge Richtung Harze fahren. Auch hier teilt man mir zunächst mit, dass es kein Hotel gäbe. Ich müsste noch die 39 km bis nach Yushu fahren. Ich suche weiter und finde schließlich doch eine Unterkunft. Der junge, äußerst engagierte Chang zeigt mir mein großes Zimmer im 2. Stock, in einem alten Gebäude unmittelbar an der Hauptkreuzung der Stadt. 40 CNY / 4,70 EUR möchte er haben und als Draufgabe erhalte ich noch einen Eimer mit frischem Wasser. Deal! Das Zimmer nebenan ist zur Hälfte mit getrocknetem Yak-Dung gefüllt, der zu meiner Überraschung kaum stinkt. Das Rad darf ich mit ins Zimmer nehmen und kann mich so später noch ein bisschen um die Radpflege kümmern und auch die Kette nochmals spannen.
Abends gehe ich mit Chang etwas essen und er besteht darauf, mich einzuladen. Anschließend führt er mich in einen Spielerclub, in dem u.a. einige Mönche in bequemen Sesseln vor modernen Bildschirmen sitzen und Computerspiele spielen. Das ist eigentlich nicht ganz meine Welt, aber ich tue ihm den Gefallen und buche für uns beide eine Stunde Online-Gaming. Nach 30 Minuten habe ich endgültig die Lust verloren und ziehe mich zurück, um meine Tagesberichte zu aktualisieren.
Meine Unterkunft. Außen "Hui" und innen ... :
25.5.2014: Xiewusi – Shiqu Pass (90 km / 1.294 hm)Als ich am Morgen im Restaurant von gestern Abend mein Rührei mit Tomaten verspeise fällt mir beim Durchlesen des Beipackzettels des von mir immer noch täglich eingenommenen Antibiotikums Amoxicillin auf, das dieses Medikament penicillinbasiert ist. Nicht gut, denn vor knapp 17 Jahren habe ich einmal eine allergische Reaktion auf Penicillin gezeigt. Und jetzt? Ich entscheide mich die Behandlung mit dem Medikament abzubrechen, da allergische Reaktionen bei Amoxicillin meist erst ab ca. 5 Tagen auftreten und das bisherige Ausblieben von allergischen Reaktionen damit wohl kein Indiz dafür darstellt, dass es nicht noch zu einer allergischen Reaktion kommen wird! Bleibt zu hoffen, dass sich die Bakterien nun nicht wieder vermehren und die Erkältung umso stärker zurückkommt! Ein neues Antibiotikum möchte ich jedenfalls erst einmal nicht einnehmen.
Nach 22 km Anstieg mit phantastischen Ausblicken und Yakherden am Straßenrand ist der Pass auf 4.700m erreicht und bietet wieder eine wundervolle Aussicht. Zu meiner Freude ist mir der Anstieg heute schon deutlich leichter gefallen!
Dann tritt plötzlich ein Sturm auf und bringt in diesem Fall zum Glück viel Rückenwind. Er bläst mich fast 20 km über die mit Schlaglöchern übersäte Straße bis nach Gannaoke. Am Berghang, unmittelbar am Ortseingang wird gerade das riesige Kloster renoviert. Im Ort finde selbst findet sich auch ein Restaurant, in dem ich vor dem einsetzenden Regen Schutz suche.
Als es aufhört zu regnen fahre ich weiter. Es folgt der zweite Passaufstieg des Tages auf 4.400m. Als ich oben bei einsetzender Dunkelheit ein paar Fotos machte, zupft mich plötzlich jemand an meiner gelben Signalweste. Es ist die Tibeterin Chimilamo, die mich zu ihrer Familie in ein großes weißes Zelt am Pass einlädt. Drinnen kann ich mich an dem heißen Ofen aufwärmen und bekomme eine leckere Suppe, Gemüse und Tee serviert während mir der 13jährige Sohn Tudenzeri, sein Vater Tuto und ein Gast (Zetchengambo) begeistert Fotos vom Dalai Lama auf einem chinesischen Smartphone zeigen. Ich übernachte schließlich bei der netten tibetischen Familie und man besteht darauf, dass ich in einem der 2 Betten schlafe während sich die Eltern in eines der Nachbarzelte zurückziehen. So verbringe ich meine erste Nacht in einem tibetischen Zelt an einem warmen, mit Yak-Dung gefütterten Ofen!